Der lange Schatten des Kolonialismus. Ein Literaturessay über „Colonialism and Modern Social Theory“
Ist heute vom ›Postkolonialismus‹ die Rede, so sind damit viele verschiedene Denkmotive zugleich gemeint. Die deutlichsten Konturen besitzt der Begriff, wenn er auf die erste Generation von politischen Intellektuellen angewendet wird, die nach der Befreiung ihrer Heimatländer vom Kolonialismus die Folgen zu untersuchen begannen, die die Kolonialherrschaft in ihrem eigenen Bewusstsein und dem ihrer Landsleute hinterlassen hatte. Hier, bei Denkern wie Frantz Fanon, Aimé Césaire oder Léopold Sédar Senghor, kam dem ›Post‹ im Begriff des Postkolonialismus noch ganz buchstäblich die zeitliche Bedeutung eines ›Nachher‹ zu, aus dessen unmittelbarer Erfahrung heraus die Wunden freigelegt werden sollten, die der vormalige Kolonialismus seinen Opfern zugefügt hatte. Diese Bedeutung einer direkten Vergangenheitsbewältigung verliert der Begriff aber, wenn er heute verwendet wird, um damit eine neue Generation von postkolonialen Denker:innen zu bezeichnen. Deren Absicht ist es nicht länger, die Schrecken des gerade überwunden geglaubten Kolonialismus aufzuarbeiten, sondern zu Bewusstsein zu bringen, dass er auch in einem sich postkolonial gebenden Zeitalter von beklemmender Gegenwärtigkeit ist. Es ist daher nicht mehr die Vergangenheit, die im heutigen Postkolonialismus auf dem Spiel steht, sondern unsere Gegenwart selber; der zeitliche Bezug hat sich über die Jahrzehnte hinweg geändert, aus dem Präteritum ist inzwischen das Präsens des Kolonialismus geworden. Mit diesem Wandel des zeitlichen Bezugs hat sich aber auch der Adressat des Postkolonialismus entsprechend geändert; es sind nicht mehr primär die Opfer des Kolonialismus, an die der Appell zum Bewusstseins- und Einstellungswandel ergeht, sondern diejenigen, die weiterhin von ihm profitieren, also die Mitglieder der westlichen Staaten.