24.01.2025

Schlechtes Weltgewissen?

Gerd Hankel findet im Völkerrecht, all seinen Unzulänglichkeiten zum Trotz, die Möglichkeit zur Ahndung fernen Unrechts

Bilder und Berichte aus Konfliktgebieten, aktuell jene aus der Ukraine und dem Nahen Osten, rufen Entsetzen und Protest hervor: Die geradezu in Echtzeit verfolgbaren Gewaltexzesse werfen nicht nur die Frage auf, wie man Kriege beenden kann. Fraglich ist auch, ob sich solches Unrecht ahnden lässt. Einen Weltstaat gibt es bekanntlich nicht.

Politische Realisten messen internationalem Recht daher kaum Bedeutung zu. Aber verweist nicht gerade die öffentliche Skandalisierung brutaler Kriegsführung auf ein Weltgewissen, das sich aufrütteln lässt – und damit auf die Annäherung an einen Zustand, in dem, mit Kant, „die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird“?

Gerd Hankel bejaht letztere Frage in seinem Buch differenziert: Das Völkerrecht nimmt hier die Rolle eines „zivilisatorischen Versuchs“ ein: keine lineare Fortschrittsteleologie also, sondern ein Stadium auf dem Weg zum Fortschritt, das erst in der längeren historischen Perspektive sichtbar wird. Das ist gut argumentiert und lesenswert geschrieben.

Der Hamburger Jurist und Sprachwissenschaftler beginnt sein Buch mit einer Szene aus Goethes „Faust, der Tragödie erster Teil“: ein Gespräch zwischen zwei Bürgern an Ostern, über Krieg und Kriegsgeschrei in der fernen Türkei. Man hört gehobene Stimmung angesichts des Kontrasts zwischen fernem Leid und eigenem Wohlbefinden. Hankel macht sich keine Illusionen: Noch immer und überall auf der Welt gebe es zahlreiche Zeitgenossen wie jene zu Goethes Zeiten.

Dennoch sei mittlerweile etwas anders: Heute gebe es eine Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, die UNO sowie internationale (Straf-)Gerichtshöfe. Durch sie könne die internationale Staatengemeinschaft im Falle massiven Unrechts handeln: Unrecht also, das das „Gewissen der Menschheit“ erschüttere, wie es in er Präambel des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998 heißt.

Dass das keine ganz neue Entwicklung ist, illustriert Hankel mit seiner anekdotenhaften Darstellung historischer Unrechtswahrnehmungen. Erzählerische Sprünge zwischen antiken, (früh)neuzeitlichen und gegenwärtigen Szenen erschweren zwar zuweilen den Lesefluss. Sie verdeutlichen aber, dass die Problematisierung „fernen Unrechts“ kein genuin modernes Phänomen ist. Sie erfolgte etwa in den Debatten um die spanische Kolonialisierung des amerikanischen Doppelkontinents seit dem fünfzehnten Jahrhundert.

Was aber hat sich in der Geschichte dann geändert? Gestützt auf die stark angewachsene Forschungsliteratur, verortet Hankel im neunzehnten Jahrhundert Europas eine Ära völkerrechtlicher Transformation, die er überzeugend skizziert. Hier verdichtete sich das zuvor uneinheitliche Vokabular eines „humanitären Gewissens“ in völkerrechtlichen Verträgen, angefangen beim Kampf gegen den transatlantischen Sklavenhandel und die Kodifikation des Kriegsrechts seit der Genfer Rotkreuzkonvention von 1864. Eine zentrale Rolle in Hankels Buch nimmt die Entwicklung des internationalen Strafrechts seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts bis zum Römischen Statut ein. Besonders interessant sind Hankels Ausführungen dazu aufgrund seiner jahrzehntelangen Arbeit in Ost- und Zentralafrika, etwa in Ruanda.

Diese Verrechtlichung der internationalen Beziehungen hält Hankel für so wichtig, weil sie eine sprachliche Konkretisierung von Unrechtswahrnehmungen ermöglichen: Fernes Unrecht spricht demnach vor allem dann zu uns, wenn wir es in Worte fassen können, wenn konkretisierte Gesetzestexte vor der Öffentlichkeit Maßstab sind. Hier bezieht sich Hankel neben Steven Pinker, Hans Joas und Jürgen Habermas auch auf den Gründer (und leider wohl auch Türschließer) seiner Heimatinstitution, Jan Philipp Reemtsma, und sein bahnbrechendes Buch „Vertrauen und Gewalt“ (2008): Erst die Referenz auf das positive Recht ermögliche Vertrauen in die Gewaltreduktion der Moderne. Das ist interessant gedacht, weil Reemtsma selbst Vertrauen in die Moderne jenseits eines staatlichen Gewaltmonopols für undenkbar hält.

Hankels Versuch, Reemtsmas Argument aus den nationalstaatlichen Grenzen zu lösen, hätte allerdings noch zusätzlich an Stärke gewonnen, wenn er auch die Transformation der Öffentlichkeit stärker beleuchtet hätte. So gilt der von Hankel angesprochene Krimkrieg (1853/56) in der „visual history“ als „erster europäischer Medienkrieg“. Von nun an konfrontierte die Kriegsberichterstattung das Publikum mit Fotografien ferner Gewalt. Denn fernes Unrecht spricht vor allem dann zu uns, wenn wir es in Bildern gezeigt bekommen: Die grausame Gewalt in der Ukraine, in Israel und in Gaza erregt in der deutschen Öffentlichkeit heute deutlich mehr Aufsehen als der „vergessene Krieg“ im Sudan. Das Recht allein reicht nicht aus, um Empörung auszulösen.

Hankel widersteht denn auch jeglicher Überhöhung des Rechts. Seine Darstellung ist alles andere als naiv. Realpolitik, rechtspolitische Doppelstandards, Euro- beziehungsweise Westzentrismus, mangelnde Durchsetzbarkeit, Unbestimmtheit: Sorgfältig immunisiert der Autor seine Argumentation gegen die üblichen Einwände gegen das Recht.

Und doch ist Hankel vom emanzipatorischen Wert des Rechts, Unrecht öffentlich zu skandalisieren, letztlich überzeugt – und überzeugt damit den Leser: Sein Buch zeigt anschaulich, dass das Recht ein Maßstab für die öffentliche Skandalisierung von Massengewalt ist – aller Ambivalenzen, Rückschritte und Anfälligkeiten für Politisierung zum Trotz. Aber nur durch widerspruchsfreies Handeln könne es zu einem wirklichen zivilisatorischen Fortschritt werden, so Hankel. Das kann auch als Plädoyer an die Adresse demokratischer Regierungen gelesen werden. Um dieses Plädoyer zu verwirklichen, bräuchte es aber wohl weitere zivilisatorische Versuche.

Von Hendrik Simon aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24.01.2025, Nr. 20, Neue Sachbücher, S. 12. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

Gerd Hankel: „Fernes Unrecht, fremdes Leid“. Von der Durchsetzbarkeit internationalen Rechts.

Hamburger Edition,

Hamburg 2024.

352 S., geb., 35,- Euro.

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