21.09.2025
Portrait

Nicole Deitelhoff – Was Frieden bedeutet

Als im Bundestagswahlkampf im vergangenen Jahr die AfD und das BSW den Friedensbegriff für sich entdeckten und manche schon von einer „neuen Friedensbewegung“ sprachen, zeigte sich die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff, Direktorin des Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung, erstaunt. Das lag nicht nur daran, dass sich bei den selbst ernannten Friedensparteien kein substanzielles Friedenskonzept fand. Frieden, so Deitelhoff, müsse schon „mehr sein als eine Friedhofsruhe oder die Pause bis zum nächsten Krieg“. Er müsse einen dauerhaften Weg aus der Gewalt aufzeigen.

Ihr Erstaunen galt vor allem auch der Renaissance des Friedensbegriffs als solchem, da dieser im öffentlichen Diskurs in weiten Teilen an Bedeutung verloren hatte. Frieden galt hier mitunter als „gescheiterter Begriff“, weil die nach dem Kalten Krieg an ein liberales Friedensverständnis geknüpften Erwartungen, die Hoffnungen auf eine europäische Friedensordnung und das Versprechen demokratischer Friedfertigkeit enttäuscht worden waren. Zwar erwiesen sich Demokratien untereinander als friedlich, doch im Umgang mit Autokratien und bei der Durchsetzung ihrer Werte und Interessen oft als umso kriegsbereiter, sodass, wie die Politologin es zum Jahresbeginn in einem Gastbeitrag im „Spiegel“ darstellte, der „Friedensbegriff vom Sicherheitsbegriff verdrängt“ wurde.

Die Frage, wie sie Frieden definiere, beantwortet die Professorin für Internationale Beziehungen mit zwei geläufigen Begriffen: mit dem „negativen Frieden“, der die Abwesenheit von physischer Gewalt bezeichnet; und dem „positiven Frieden“, der einen Zustand beschreibe, in dem nicht nur keine Gewalt da sei, sondern wir darüber hinaus gerechte Verhältnisse haben. Seit Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine wird Nicole Deitelhoff in kurzem Takt befragt, welcher Frieden und welche Lösung möglich seien, solange es einen Aggressor gibt, und wie ein Frieden überhaupt zu verhandeln wäre. Ihre Antworten zeichnen sich vor allem durch Beweglichkeit aus, durch das Vermögen, sich auf ein permanent sich veränderndes, dynamisches Kriegsgeschehen einzustellen und die strategischen Möglichkeiten auszuloten. In Kriegen gebe es, so Deitelhoff, oft zwei Zeitfenster für Frieden. Das erste öffne sich kurz nach dem Ausbruch der Gewalt, wenn beide Seiten feststellten, dass sie sich verkalkuliert und die Kräfte des Gegners falsch eingeschätzt haben. Wenn Gewalt und Gräueltaten zunehmen, werde der Weg aus dem Krieg heraus immer schwieriger, und Verhandlungen würden erst dann wieder erwogen, wenn Mittel und Möglichkeiten erschöpft seien. Aufgabe der Friedensforschung ist es, in solchen Situationen anhand großer Datenmengen zu analysieren, worum es in einem Konflikt geht: Territorium, Ressourcen oder Ideologie. Und Optionen zu finden, die den politischen Akteuren dabei helfen könnten, Entscheidungen zu treffen.

Dass es in der Ukraine darum geht, einen Frieden mit dem Aggressor Russland schließen zu müssen, steht für Deitelhoff außer Frage. Für sie ist es kein Argument, zu sagen, dass Putin immer schon gelogen habe, man mit ihm deswegen keine Verträge schließen könne. Dann könnte man praktisch mit fast keinem Staat irgendwo Verträge schließen. Wie sich Staaten mit entgegengesetzten Werten und Interessen, wie sich Demokratien und Autokratien in eine internationale Ordnung integrieren lassen, ohne rücksichtslos nach dem Recht des Stärkeren zu verfahren, das ist die grundsätzliche Frage, die die Friedensforscherin umtreibt.

Julia Encke

Aktuelles aus dem Forschungszentrum

News
21.11.2025

Freiwillig oder verpflichtend? Wehrdienst, Frieden und demokratische Verantwortung

Nachbericht zu den 58. Römerberggesprächen. Das Thema Wehrpflicht und die Frage, was ein demokratischer Staat von seinen Bürgerinnen und Bürgern verlangen darf, standen im Zentrum der 58. Römerberggespräche "Bedingt einsatzbereit? Wehrdienst und die Pflicht zum Dienst am Staat", die am 15. November in Kooperation mit dem Forschungszentrum Normative Ordnungen im Chagallsaal des Schauspiel Frankfurt stattfanden.

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Publikation
21.11.2025 | Sammelband

Handbook of Leadership. Applied Business Psychology for Managers

Felfe, Jörg; Dick, Rolf van (eds.) (2025): Handbook of Leadership. Applied Business Psychology for Managers. Springer.

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News
13.11.2025

Goethe Lecture Offenbach zu ableistischer Diskriminierung

Regina Schidel hat im Rahmen der Goethe Lectures Offenbach eine Kritik ableistischer Diskriminierung präsentiert. In ihrem Vortrag „Ich kann, also bin ich?“ diskutierte sie praktische Ausprägungen und philosophische Herkünfte von Ableismus.

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Veranstaltung
10.02.2026 | Frankfurt am Main

Satanic Politics. Democracy after Liberalism

Ringvorlesungen, Vortrag

Vortrag von Michael Rosen (Harvard University) im Rahmen der Ringvorlesung "Am Scheidepunkt? Zur Krise der Demokratie" im Wintersemester 2025/2026

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Veranstaltung
04.02.2026 | Frankfurt am Main

Demokratien verteidigen. Zur Aktualität des Gewaltbegriffs bei Camus und Derrida

Ringvorlesungen, Vortrag

Vortrag von Christine Abbt (Universität St. Gallen) im Rahmen der Ringvorlesung "Am Scheidepunkt? Zur Krise der Demokratie" im Wintersemester 2025/2026

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Veranstaltung
29.01.2026

Civil Geopolitics and the Dilemmas of the Democratic State

Ringvorlesungen, Vortrag

Vortrag von David Owen (Universtiy of Southampton) im Rahmen der Ringvorlesung "Am Scheidepunkt? Zur Krise der Demokratie" im Wintersemester 2025/2026

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Veranstaltung
14.01.2026 | Frankfurt am Main

Vom Retten der Welt zum Vorbereiten auf den Kollaps: Neuorientierungen in katastrophischen Zeiten

Ringvorlesungen, Vortrag

Vortrag von Christine Hentschel (Universität Hamburg) im Rahmen der Ringvorlesung "Am Scheidepunkt? Zur Krise der Demokratie" im Wintersemester 2025/2026

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Veranstaltung
10.12.2025 | Frankfurt am Main

How Democracy Relies on the Future

Ringvorlesungen, Vortrag

Vortrag von Jonathan White (LSE) im Rahmen der Ringvorlesung "Am Scheidepunkt? Zur Krise der Demokratie" im Wintersemester 2025/2026

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Veranstaltung
27./28.11.2025 | Frankfurt am Main

Reconsidering Legal Subjectivity In and Through the Anthropocene

Konferenz

Internationale Konferenz organisiert vom Wissenschaftsnetzwerk Recht im Anthropozän (RiA) in Kooperation mit dem Forschungszentrum Normative Ordnungen.

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