Als im Bundestagswahlkampf im vergangenen Jahr die AfD und das BSW den Friedensbegriff für sich entdeckten und manche schon von einer „neuen Friedensbewegung“ sprachen, zeigte sich die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff, Direktorin des Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung, erstaunt. Das lag nicht nur daran, dass sich bei den selbst ernannten Friedensparteien kein substanzielles Friedenskonzept fand. Frieden, so Deitelhoff, müsse schon „mehr sein als eine Friedhofsruhe oder die Pause bis zum nächsten Krieg“. Er müsse einen dauerhaften Weg aus der Gewalt aufzeigen.
Ihr Erstaunen galt vor allem auch der Renaissance des Friedensbegriffs als solchem, da dieser im öffentlichen Diskurs in weiten Teilen an Bedeutung verloren hatte. Frieden galt hier mitunter als „gescheiterter Begriff“, weil die nach dem Kalten Krieg an ein liberales Friedensverständnis geknüpften Erwartungen, die Hoffnungen auf eine europäische Friedensordnung und das Versprechen demokratischer Friedfertigkeit enttäuscht worden waren. Zwar erwiesen sich Demokratien untereinander als friedlich, doch im Umgang mit Autokratien und bei der Durchsetzung ihrer Werte und Interessen oft als umso kriegsbereiter, sodass, wie die Politologin es zum Jahresbeginn in einem Gastbeitrag im „Spiegel“ darstellte, der „Friedensbegriff vom Sicherheitsbegriff verdrängt“ wurde.
Die Frage, wie sie Frieden definiere, beantwortet die Professorin für Internationale Beziehungen mit zwei geläufigen Begriffen: mit dem „negativen Frieden“, der die Abwesenheit von physischer Gewalt bezeichnet; und dem „positiven Frieden“, der einen Zustand beschreibe, in dem nicht nur keine Gewalt da sei, sondern wir darüber hinaus gerechte Verhältnisse haben. Seit Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine wird Nicole Deitelhoff in kurzem Takt befragt, welcher Frieden und welche Lösung möglich seien, solange es einen Aggressor gibt, und wie ein Frieden überhaupt zu verhandeln wäre. Ihre Antworten zeichnen sich vor allem durch Beweglichkeit aus, durch das Vermögen, sich auf ein permanent sich veränderndes, dynamisches Kriegsgeschehen einzustellen und die strategischen Möglichkeiten auszuloten. In Kriegen gebe es, so Deitelhoff, oft zwei Zeitfenster für Frieden. Das erste öffne sich kurz nach dem Ausbruch der Gewalt, wenn beide Seiten feststellten, dass sie sich verkalkuliert und die Kräfte des Gegners falsch eingeschätzt haben. Wenn Gewalt und Gräueltaten zunehmen, werde der Weg aus dem Krieg heraus immer schwieriger, und Verhandlungen würden erst dann wieder erwogen, wenn Mittel und Möglichkeiten erschöpft seien. Aufgabe der Friedensforschung ist es, in solchen Situationen anhand großer Datenmengen zu analysieren, worum es in einem Konflikt geht: Territorium, Ressourcen oder Ideologie. Und Optionen zu finden, die den politischen Akteuren dabei helfen könnten, Entscheidungen zu treffen.
Dass es in der Ukraine darum geht, einen Frieden mit dem Aggressor Russland schließen zu müssen, steht für Deitelhoff außer Frage. Für sie ist es kein Argument, zu sagen, dass Putin immer schon gelogen habe, man mit ihm deswegen keine Verträge schließen könne. Dann könnte man praktisch mit fast keinem Staat irgendwo Verträge schließen. Wie sich Staaten mit entgegengesetzten Werten und Interessen, wie sich Demokratien und Autokratien in eine internationale Ordnung integrieren lassen, ohne rücksichtslos nach dem Recht des Stärkeren zu verfahren, das ist die grundsätzliche Frage, die die Friedensforscherin umtreibt.
Julia Encke