Er entkam in einer Bücherkiste. Zwei Jahre zuvor, 1619, war Huigh de Groot (1583-1645) – besser bekannt unter dem latinisierten Namen Hugo Grotius – auf Schloss Loevestein inhaftiert worden. 1621 gelang ihm dank seiner Frau die Flucht nach Paris: Maria van Reigersberch war Grotius in die Haft gefolgt und verschaffte ihm Zugang zu Büchern – und damit zu einem originellen Fluchtweg. Die Bücherkistenszene steht paradigmatisch für das Bild von Grotius als scharfsinnigem Genie.
Noch bevor er in einer Bücherkiste die Flucht ergriff, hatte Grotius auf Schloss Loevestein den Großteil der Arbeit an seinem wichtigsten Werk abgeschlossen: „De iure belli ac pacis libri tres“ (Drei Bücher über das Recht des Krieges und des Friedens). Das Werk erschien erstmals 1625 in Paris und damit inmitten des Dreißigjährigen Krieges.
Als juristischer Berater des Ratspensionärs der Provinzen Holland und Friesland, Johan van Oldenbarnevelts, hatte sich Grotius vor seiner Inhaftierung in Streitschriften für religiöse Toleranz und politische Autonomie der Provinzen eingesetzt. Oldenbarnevelt unterlag im Konflikt Moritz von Oranien, dem Statthalter und Oberbefehlshaber des Heeres der Republik der Vereinigten Niederlande. Es war zum Bruch gekommen zwischen den beiden Männern, die maßgeblich zur Unabhängigkeit der jungen Republik vom spanischen Einfluss beigetragen hatten. Oldenbarnevelt wurde hingerichtet, Grotius zu lebenslanger Haft verurteilt.
Grotius‘ Denken war in vielerlei Hinsicht unorthodox. Der politische Philosoph und Rechtsgelehrte kombinierte aristotelische, christliche, römisch-rechtliche, stoische und individualistische Argumente und entwickelte eine Naturrechtslehre, die sich nicht auf göttliches Recht, sondern auf Vernunft gründete. Für Grotius stimmte dieses Naturrecht zwar mit dem Willen Gottes überein. Es beruhte aber letztlich auf der Überzeugung, dass der Mensch qua Vernunft selbst zwischen Recht und Unrecht unterscheiden könne. Anders als für seinen englischen Zeitgenossen Thomas Hobbes stand Grotius dabei ein positives Menschenbild vor Augen: der Mensch als von Natur aus rationales und geselliges Individuum, das mit subjektiven Rechten ausgestattet ist und mit der Verpflichtung, die Rechte anderer zu achten.
Die zentrale These in Grotius‘ Hauptwerk von 1625 lautet: Auch mit Blick auf den Krieg gelten universelle Rechte, und diese Rechte sind „rational“ begründbar. Ciceros berühmte Sentenz, dass die Gesetze im Kriege schweigen, erteilte Grotius eine klare Absage: Der Satz sei, schrieb Grotius, „so weit von der Wahrheit entfernt, dass ein Krieg sogar nur der Rechtsverfolgung wegen angefangen, und ein begonnener nur nach dem Maße des Rechts und der Treue geführt werden darf.“ Für Grotius stand fest: „ubi iudicia deficiunt, incipit bellum“, wo die gerichtlichen Entscheidungen fehlen, da beginnt der Krieg. Ein überstaatliches Gericht existierte nicht, weder Papst noch weltliche Herrscher kamen in der politisch zersplitterten und multikonfessionellen Landschaft des frühneuzeitlichen Europas als Schiedsrichter (arbiter) in Betracht. Für Grotius war Krieg also eine Art Selbsthilfe zur Wiedergutmachung eigener Rechte: Ein Staat musste sein Recht selbst durchsetzen – auch durch Krieg.
Im Zentrum von Grotius‘ Werk stand daher die Frage, wann und unter welchen Umständen Krieg gerechtfertigt sei. Eine Antwort fand er in der Lehre vom „gerechten Krieg“ (bellum iustum), der ältesten und einflussreichsten europäischen Tradition zur (De-)Legitimierung von Gewalt. Die Beurteilung der Legitimität von Kriegen und Kriegsführung erfolgt in ihr anhand bestimmter Kriterien, die der Kirchenlehrer Thomas von Aquin im dreizehnten Jahrhundert systematisierte: Kriege sollten demnach vor allem dann als gerecht gelten, wenn sie von einer legitimen Autorität, also einem Fürsten oder Staat, mit gerechtem Grund und lauterer Intention geführt wurden.
Grotius modifizierte diese Lehre und verband sie mit seiner Naturrechtstheorie. Ihm zufolge verfügte, analog zum Individuum, auch der Staat über subjektive Rechte. Innerhalb des naturrechtlichen Systems beruhten diese Ansprüche nicht mehr ausschließlich auf moraltheologischen Gemeinwohlvorstellungen (bonum commune), sondern konnten auch unabhängig davon gegen einen Rechtsverletzer durchgesetzt werden. Ein Großteil seines Werks von 1625 widmete Grotius daher der Frage, wann genau Gründe vorlagen, um Krieg führen zu dürfen. Die wichtigsten sind für Grotius: Selbstverteidigung, die Wiederherstellung von Eigentum und die Sanktion eines Unrechts.
Nach verbreiteter Lesart entwarf Grotius damit eine normative Ordnung für die „internationale“ Anarchie seiner Zeit, wies einen Weg aus den konfessionellen Konflikten hin zu einem modernen, säkularen Völkerrecht, das sich im Westfälischen Doppelfrieden von 1648 manifestiert habe. Für diese Säkularisierungsthese des Rechts bei Grotius spricht, dass er rechtliche Regeln für die Gewalt im Krieg anerkannte, unabhängig von der Gerechtigkeit einer Kriegserklärung. Die in einem Krieg ausgeübte Gewalt sollte trotz der vagen Bestimmtheit des „gerechten Grundes“ völkerrechtlich begrenzt werden.
Für das Völkerrecht und seine Geschichtsschreibung wurde Grotius‘ „De iure belli ac pacis“ zum epochemachenden Werk. Noch im Dreißigjährigen Krieg wurde es vom schwedischen König Gustav Adolf II. – dessen diplomatischer Gesandter Grotius in Paris war – gelesen, ebenso von Samuel Pufendorf, der 1661 an der Universität Heidelberg auf den ersten Lehrstuhl für Natur- und Völkerrecht berufen wurde. Seitdem wurden die drei Bücher vom „Recht des Krieges und des Friedens“ durch vier Jahrhunderte von Generationen von Diplomaten, Politikern und Rechtsgelehrten konsultiert. Grotius wurde dabei immer wieder als der „Vater des modernen Völkerrechts“ geehrt, eine „Grotianische Tradition“ wurde etabliert.
In den letzten fünfundzwanzig Jahren haben mit einem neuen Interesse an der Geschichte des Völkerrechts kritische und dekolonialistische Perspektiven Aufwind bekommen. Dabei wird auch die Grotianische Tradition und Rezeptionsgeschichte kritisch beleuchtet. Und es lohnt sich, hier einmal genauer hinzuschauen.
So ist etwa die Frage, ob Grotius wirklich das moderne Völkerrecht begründete oder ob nicht frühere Autoren wie Paul Vladimiri, Alberico Gentili oder Francisco de Vitoria – oder gar eine Autorin wie Christine de Pisan – Anspruch auf den Titel des „Vaters“ beziehungsweise der „Mutter des modernen Völkerrechts“ haben, heute eine beliebte Streitfrage. Ein weiterer Einwand lautet, dass auch Grotius die Paradoxie der Lehre des „gerechten Krieges“ nicht überwinden konnte, Gewalt nicht nur zu limitieren, sondern durch ihre normative Ordnung erst zu legitimieren. Schon Immanuel Kant nannte 1795 Grotius – zusammen mit Pufendorf und Vattel – einen „leidigen Tröster“: Seine Lehre habe bloß immer neue Rechtfertigungen für den Krieg hervorgebracht, aber keinen einzigen Krieg verhindert.
Dieser Einwand ist grundsätzlich zwar plausibel. Denn indem Grotius Krieg als Rechtsmittel konzipierte, lieferte er auch naturrechtliche Begründungen für Gewalt. Allerdings sollte man die normative Bedeutung von Kriegsrechtfertigungen nicht unterschätzen: Die Würzburger Frühneuzeithistorikerin Anuschka Tischer hat in ihrer bahnbrechenden Forschung zu Kriegsmanifesten in der politischen Praxis zwischen 1492 und 1792 gezeigt, dass sich Souveräne mit Kriegslegitimationen durchaus öffentlich angreifbar machten. Die Geschichte des Krieges ist zugleich eine Geschichte seiner Rechtfertigung und seiner Kritik. Heute steht das am Beispiel der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten klar vor Augen.
Aber nicht nur, dass Grotius die lange Geschichte der Kriegsrechtfertigung nicht beenden konnte – er war selbst in sie aktiv involviert, wie etwa die niederländisch-schottische Historikerin Martine Julia van Ittersum zeigt. Bevor Grotius 1625 sein Werk veröffentlichte, schrieb er 1604/05, zu Beginn seiner Karriere, ein Gutachten für die Niederländische Ostindien-Kompanie (Vereenigde Oostindische Compagnie, VOC). Dieses Gutachten trägt den Titel „De Iure Praedae“ (Über das Prisenrecht). Sein Anlass war ein niederländisch-portugiesischer Streit: In der Nacht zum 25. Februar 1603 überfiel Jacob van Heemskerk, Admiral der Niederländischen Ostindien-Kompanie, auf der Straße von Singapur ein portugiesisches Schiff und machte reiche Beute. Allerdings befanden sich Portugal und die Niederlande zu diesem Zeitpunkt nicht im Krieg gegeneinander. Grotius sollte für die VOC klären: Durfte van Heemskerk, als Admiral einer privaten Handelskompanie, überhaupt einen solchen Angriff durchführen? War er nun als Soldat zu behandeln – oder aber als Pirat?
Mit seinem Gutachten begab sich Grotius in unruhige Gewässer: Denn er widersprach darin explizit der Aufteilung der Welt in eine spanische und eine portugiesische Einflusszone, die 1493 in einer päpstlichen Bulle und 1494 im Vertrag von Tordesillas festgelegt worden war. Grotius hingegen argumentierte, dass das Meer und die Handelsrouten frei seien und niemandem gehörten (mare liberum). Daher stelle das Behindern der niederländischen Kaufleute durch die Portugiesen ein Unrecht dar. Weil sich van Heemskerk aber auf offener, herrenloser See befand, habe ihm ein natürliches Recht zugestanden, die Portugiesen stellvertretend für die Niederländer – „und die gesamte Menschheit“ – zur Rechenschaft zu ziehen. Grotius rechtfertigte also für seinen Auftraggeber einen Privatkrieg im Namen des Naturrechts. Seine Rechtslehre konnte damit für die expansiven niederländischen Handelsinteressen instrumentalisiert werden.
Dem Bild vom Humanisten Grotius, der die rechtliche Limitation des Krieges verfolgte, stehen damit kritische Einschätzungen gegenüber, die seine Verstrickung in die Legitimation von Krieg und Kolonialismus betonen. Ihnen zufolge legte Grotius eine Theorie der Kolonialschuld vor, in denen indigene Völker in ungleiche Bündnisse gezwungen wurden: Die Niederländer gewährten den indigenen Völkern Schutz vor der iberischen Unterwerfung – und forderten hierfür ihrerseits Entschädigung.
Seit 1625 hat jede Generation auch „ihren“ Grotius konstruiert. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die jüngst publizierte Studie „The Unseen History of International Law“. Für das Buch hat ein Heidelberger Forscherteam um Mark Somos tausend Exemplare der ersten neun Ausgaben von Grotius‘ „De iure belli ac pacis“, die zwischen 1625 und 1650 erschienen sind, sowie darüber hinaus Annotationen von Lesern aus vier Jahrhunderten untersucht.
Das Ergebnis ist eine außergewöhnliche Rezeptionsgeschichte: So können die Forscher zeigen, wie Grotius‘ Werk im Laufe der Jahrhunderte für diametral widersprüchliche Positionen angeführt wurde, etwa sowohl zur Rechtfertigung als auch zur Kritik von Sklaverei. Hier zeigt sich erneut das für das Völkerrecht grundlegende Paradoxon, dass das Recht immer sowohl zur Legitimation als auch zur Delegitimation von Politik angeführt werden darf, wie es der finnische Völkerrechtshistoriker Martti Koskenniemi formulierte.
Zudem verdeutlichen die Autoren um Mark Somos überzeugend die große Rolle von Verlegern für die Rezeptionsgeschichte von Grotius. Die Entscheidung etwa, Grotius‘ Text „Mare Liberum“ von 1609 in die Ausgabe von 1632 aufzunehmen, habe nicht mit einer Änderung von Grotius‘ politischer Theorie zu tun gehabt, wie lange behauptet wurde, sondern allein mit ökonomisch-verlegerischem Kalkül. Es sei eine Entscheidung im Konkurrenzkampf zwischen den Verlegern Janssonius und Blaeu gewesen.
Erstaunliche Einsichten wie diese unterstreichen die Notwendigkeit der historischen Kontextualisierung jener Riesen, auf deren Schultern die heutige Forschung steht. Ihr Buch, meint Projektleiter Mark Somos im Gespräch, sei „im Grunde ein Projekt von Historikern, die ihren Grotius von den Juristen zurückhaben wollen“. Wenn internationalen und nationalen Gerichtshöfen die Argumente ausgingen, werde Grotius hervorgeholt, so Somos: „Die Richter des Internationalen Gerichtshofs möchten Einzelpersonen völkerrechtliche Klagebefugnis einräumen? Grotius. China will die Ausweitung seiner territorialen Souveränität durch künstliche Inseln begründen? Grotius. Wie lassen sich die Beschränkungen des Weltraumvertrags überwinden? Grotius. Das ist tragikomisch und muss aufhören.“
Die kritische Auseinandersetzung mit Grotius‘ Werk ist durchweg zu begrüßen. Zu viele Leser in der langen Rezeptionsgeschichte hätten sich zu unkritisch mit Grotius auseinandergesetzt und damit eine einseitige Verehrung begründet, so Mark Somos. Diese Reproduktionen und Wiederholungen aber seien langweilig. In der Rezeptionsgeschichte blieben vielmehr jene Kommentare in Erinnerung, die kritisch und originell seien. Vielleicht können seine Kritiker immerhin darin von Grotius lernen.
Hendrik Simon ist Historiker und Politikwissenschaftler am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ), Universität Frankfurt, sowie am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung (PRIF).