Die Normativität des Rechts im Wandel 

Projektleitung: Prof. Dr. Klaus Günther und Prof. Dr. Stefan Kadelbach

Das Projekt zielte darauf ab, rechtliche Konzeptionen von Normativität (verstanden als die bindende Kraft von Normen, die ihnen ihren Sollens-Gehalt verleiht) herauszuarbeiten und sie im Hinblick auf sich wandelnde Rahmenbedingungen von global governance, globaler Gerechtigkeit und Legitimität auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen.
Der Fokus des Projekts lag dabei auf dem internationalen Recht. Dieser – neutrale – Begriff soll sowohl das Völkerrecht als auch über- bzw. außerstaatliche Rechtssetzung durch nicht-staatliche Akteure umfassen. Im Völkerrecht hat unter dem Einfluss insbesondere der Globalisierung, der Verlagerung von Zuständigkeiten auf internationale Organisationen sowie zunehmender Rechtssetzung durch nicht-staatliche Akteure ein Strukturwandel stattgefunden, welcher sich durch eine Entstaatlichung der Rechtssetzung und eine Überlagerung des Rechts durch neue Normschichten kennzeichnet.

Im Rahmen des Projekts wurde zunächst ein Verständnis des Begriffs der rechtlichen Normativität herausgearbeitet, welcher zum einen für die Charakterisierung einer Norm als Rechtsnorm hinreichend bestimmt ist, zum anderen aber hinreichend offen für eine Anwendung auf zwischen- bzw. überstaatliche Sachverhalte bleibt. Anhand von diesem Normativitätsbegriff wurde dann versucht, Kriterien für die Unterscheidung Recht / Nicht-Recht (was unterscheidet Rechtsnormen von anderen Normen?) zu entwickeln. Geprüft wurde, ob überhaupt von einem einheitlichen Rechts- und somit auch Normativitätsbegriff ausgegangen werden kann. Zudem stellte sich im spezifischen Kontext des Völkerrechts die Frage nach den Auswirkungen eines Wandels des Normativitätsverständnisses auf die Rolle des Rechts im über- bzw. zwischenstaatlichen Raum.

Ziel des Vorhabens war ein Beitrag zur Frage, warum Recht jenseits staatlicher Rechtsordnungen und der zugehörigen Zwangsapparate verbindlich ist. Vor diesem Hintergrund wurden zum einen von Klaus Günther und seinem Mitarbeiter Ralf Seinecke die Theorien des Rechtspluralismus, zum anderen von Alain Germeaux und Stefan Kadelbach die Theorien zum Völkerrecht und zur Normativität in den internationalen Beziehungen gesichtet und kritisch gewürdigt. 

Das völkerrechtliche Teilprojekt untersuchte verschiedene Wege, die Verpflichtungskraft von Normen zwischen den Staaten zu erklären. Die diversen Zugriffe eines methodischen Realismus einschließlich der rational choice-Ansätze erwiesen sich als unbefriedigend, letztlich weil sie einseitig auf utilitaristische Kalküle der Befolgung setzen und die intrinsische Kraft normativer Bindung, die soziale Anerkennung von Normen und die Legitimität von Geltungsansprüchen nicht ausreichend veranschlagen. Daher wurde ein Ansatz erarbeitet, der Normgeltung und Normerzeugung über die Durchsetzung stellt, die Aussicht auf Durchsetzung aber zum Bestandteil der Geltung macht. 

Die Dissertation von Alain Germeaux beschäftigte sich demgemäß mit Bindungs- und Compliance-Theorien aus der Rechtstheorie, der Völkerrechtswissenschaft und der Theorie Internationaler Beziehungen. Sie griff bis in die 20er Jahre aus und geht Theorien seit Kelsen und Morgenthau thetisch durch. Nach Diskussion diverser Ansätze, von denen viele in den letzten Jahren nach langer wechselseitiger Nichtkenntnisnahme eine Annäherung der politischen und der Völkerrechtswissenschaft versuchen, entscheidet er sich nach der Aufnahme von Elementen der Lehren von Hart und Franck am Schluss für einen an die Eigenheiten des Völkerrechts angepassten kommunikationstheoretischen Ansatz. Germeaux, Alain: Shaping Foreign Policy Through Law: Communicative Action and the International Legal Order, Basingstoke: Palgrave Macmillan (im Erscheinen).

Das rechtstheoretische Teilprojekt widmete sich der aktuellen Diskussion über den globalen Rechtspluralismus. Das breite Spektrum der dazu entwickelten Theorien wurde historisch, systematisch und kritisch untersucht, vor allem in der Dissertation von Ralf Seinecke (s.u.). Daneben ging es auch darum, diese Theorien nicht nur als Beschreibungen eines Faktums zu verstehen, sondern auch als normative Positionen, die den globalen Rechtspluralismus gegenüber einem monistischen oder staatszentrierten Rechtsbegriff vorziehen. Ein normativer Rechtspluralismus muss sich dann allerdings mit dem notorischen Problem der Kollision pluraler Rechte auseinandersetzen. Für ein entsprechendes Pluralitäts- oder Hybriditätsmanagement zwischen verschiedenen Rechtsordnungen und nicht-rechtlichen Ordnungen sind einige Vorschläge gemacht worden (z.B. Schiff Berman; oder Teubner, siehe Projektbericht FF4-2. Zivilverfassungen in der Weltgesellschaft). Eine kritische Analyse dieser Vorschläge lässt erkennen, dass sie nicht ohne die kontra-faktische Unterstellung eines gemeinsamen symbolischen Raumes und gemeinsamer Diskursregeln sowie Techniken der Verallgemeinerung von Interessen auskommen. Diskurstheoretische Überlegungen sollen dazu beitragen, eine solche Position eines „Dritten“ nicht essentialistisch oder etatistisch, sondern prozedural zu rekonstruieren und zu begründen.

Die Dissertation von Ralf Seinecke analysierte verschiedene Begriffe des Rechtspluralismus aus der Rechtsanthropologie, der Rechtssoziologie, der Rechtsgeschichte, der Politikwissenschaft und dem (öffentlichen wie privaten) Internationalen Recht. Diese Konzeptionen wurden ‚werkbiographisch‘, also mit Blick auf die Protagonisten der Diskussionen und ihre biographischen Hintergründe, untersucht und systematisch geordnet. Daneben leistete die Arbeit eine Rekonstruktion des Begriffs des Rechtspluralismus selbst sowie seiner erkenntnisstrukturierenden (epistemischen) Dimensionen, seiner Begriffsgeschichte und seinem Anwendungsfeld in der Rechtsgeschichte, der Rechtsanthropologie und im Völkerrecht. Im bewussten Kontrast zu den (mehr oder weniger) ‚postmodernen‘ Autoren des Rechtspluralismus werden in der Arbeit zudem die ‚klassisch modernen‘ Gegenspieler der Rechtspluralisten daraufhin untersucht, inwieweit diese – wie die Rechtspluralisten der Postmoderne gerne behaupten – etatistisch oder monistisch verfasst sind. Ein zusammenfassendes Kapitel zu den Phänomenen, dem Rechts- und Wissenschaftsbegriff sowie der Legitimität und der Dogmatik des Rechtspluralismus beschließt die Arbeit. 

Begleitend organisierten die Projektleiter im Wintersemester 2009/10 die Ringvorlesung „Recht ohne Staat?“ mit Beiträgen von Gunther Teubner, Klaus Dieter Wolf, Rainer Hofmann, Thomas Duve, Franz von Benda-Beckmann und Susanne Schröter, die sie, erweitert um eine 40seitige Einleitung, in Buchform herausgegeben haben: Stefan Kadelbach/ Klaus Günther (Hg.): Recht ohne Staat? Zur Normativität nichtstaatlicher Rechtssetzung. Frankfurt/New York: Campus, 2011. Eine Kritik des normativen Rechtspluralismus findet sich bei: Klaus Günther, Normativer Rechtspluralismus – eine Kritik, in: H. Diefenbacher/Th. Moos/M. Schlette (Hg.), Das Recht im Blick der Anderen, Festschrift für Eberhard Schmidt-Aßmann, Tübingen (Mohr/Siebeck), 2014 (= Normative Orders Working Paper 03/2014). Zu den wichtigsten Publikationen des Projekts zählt außerdem: Seinecke, Ralf: Das Recht des Rechtspluralismus, Tübingen (Mohr Siebeck), 2015. 

Zu den wichtigsten Veranstaltungen im Forschungsprojekt zählte neben der genannten Ringvorlesung die Internationale Jahreskonferenz des Exzellenzclusters 2011 zum Thema „Legal Cultures, Legal Transfer, and Legal Pluralism“. 

Der diskurstheoretische Ansatz wird im Projekt FF3-6 „Legitimation durch Völkerrecht und Legitimation des Völkerrechts“ in der zweiten Förderperiode fortgeführt. Die Auseinandersetzung mit dem Rechtspluralismus und die diskurstheoretische Rekonstruktion der Position eines Dritten werden in der zweiten Förderperiode fortgesetzt in dem Projekt FF1-2 „Multinormativität“.

Aktuelles aus dem Forschungszentrum

News
30.06.2025

Artikel „Ideology and Suffering: What Is Realistic about Critical Theory?“ von Amadeus Ulrich im EJPT erschienen

Der Artikel „Ideology and Suffering: What Is Realistic about Critical Theory?“ von Amadeus Ulrich ist soeben Open Access im European Journal of Political Theory (EJPT) erschienen. Ulrich bringt darin die Perspektive des radikalen Realismus mit der kritischen Theorie Adornos in einen produktiven Dialog.

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News
30.06.2025

Prof. Dr. Franziska Fay mit dem Sibylle Kalkhof-Rose-Universitätspreis 2025 ausgezeichnet

Prof. Dr. Franziska Fay (Juniorprofessorin für Ethnologie mit dem Schwerpunkt Politische Anthropologie Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und ehemalige Postdoktorandin des Forschungszentrums Normative Ordnungen der Goethe-Universität) erhält den Sibylle Kalkhof-Rose-Universitätspreis 2025 in der Kategorie Geistes- und Sozialwissenschaften.

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Publikation
25.06.2025 | Onlineartikel

Ideology and Suffering: What Is Realistic about Critical Theory?

Ulrich, Amadeus (2025): Ideology and suffering: What is realistic about critical theory? European Journal of Political Theory, 0(0).  https://doi.org/10.1177/14748851251351782

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News
24.06.2025

Neue Reihe „Vertrauensfragen“ in der Frankfurter Rundschau initiiert von Hendrik Simon

Demokratie lebt vom Streit – wenn er der gemeinsamen Suche nach Lösungen dient. An diesem Miteinander hakt es oft. Die neue FR-Reihe „Vertrauensfragen“ untersucht, initiiert von Hendrik Simon (Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) Standort Frankfurt am Forschungszentrum Normative Ordnungen der Goethe-Universität), woran das liegt und wie wir es besser machen.

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Publikation
23.06.2025 | Working Paper

Untrustworthy Authorities and Complicit Bankers: Unraveling Monetary Distrust in Argentina

Moreno, Guadalupe (2025): “Untrustworthy Authorities and Complicit Bankers: Unraveling Monetary Distrust in Argentina”. Max Planck Institute for the Study of Societies Discussion Paper 25/3.

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Veranstaltung
15.07.2025 | Frankfurt am Main

Klimaethik - Ein Reader

Buchvorstellung

Vorstellung des Buchs mit Dr. Lukas Sparenborg (Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaften an der Goethe-Universität) und Prof. Dr. Darrel Moellendorf (Professor für Internationale Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität, Distinguished Visiting Professor an der Universität Johannesburg, Mitglied des Forschungszentrums Normative Ordnungen)

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Veranstaltung
14.07.2025 | Frankfurt

Utopie und Aufbruch der 1968er – Was von politischer Rebellion und individueller Selbstbefreiung geblieben ist

Podiumsdiskussion

Die Diskussionsrunde mit Rainer Langhans, Christa Ritter, die seit 1978 zur Selbsterfahrungsgruppe um Langhans gehört, und dem Sozialphilosophen Martin Saar widmet sich utopischen Vorstellungen, die von der 1968er Bewegung ausgingen, und beleuchtet deren Ideale, Impulse, individuelle und gesellschaftspolitische Nachwirkungen.

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Veranstaltung
10.07.2025 | Frankfurt am Main

Territorial Justice by Lea Ypi

Workshop

Workshop on the new book by Lea Ypi (LSE). With, among others: Andrea Sangiovanni and Ayelet Shachar.

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Veranstaltung
08.07.2025 | Frankfurt am Main

Ein anderer Blick: Die Relevanz von Betroffenenperspektiven auf Polizei und Rassismus

Ringvorlesungen

Vortrag von Leonie Fuchs (NaDiRa / DeZIM-Institut) über empirische Erkenntnisse der Betroffenenperspektiven von Rassismus in der Polizei. Teil der Ringvorlesung „Rassismus in der Polizei“.

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