Normativität und Willkür: Die Form des Willens in Kants praktischer Philosophie

Dr. Dirk Setton

Die Grundthese des Forschungsprojekt lautet, dass das Freiheitsverständnis, das für moderne normative Ordnungen charakteristisch ist, eine Spannung zwischen zwei formal unterschiedenen, aber wesentlich aufeinander bezogenen Aspekten enthält: eine Spannung zwischen der Freiheit der Autonomie auf der einen Seite, in der die Freiheit des Wollens und die rationale Einsicht in die Verbindlichkeit von normativen Prinzipien zusammenfallen, und der Freiheit der Unbestimmtheit oder der Negativität auf der anderen Seite, die unter dem Namen der „Willkürfreiheit“ den Akzent auf eine Freiheit von normativen und faktischen Notwendigkeiten legt. Diese These wurde im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit Kants praktischer Philosophie verteidigt und ihr genauer Sinn herausgearbeitet. Zwei miteinander verschränkte Fragen standen dabei im Zentrum des Projekts: Wie kann (1) eine Konzeption vom Grund der Normativität (das „moralische Gesetz“ bei Kant) zugleich als Wirklichkeit der Freiheit eines endlichen Willens ausgezeichnet werden? Und wie ist es (2) möglich, dass ein endliches Subjekt, das konstitutiv auf Sinnlichkeit und Rezeptivität angewiesen ist, durch das praktische Gesetz der „reinen Vernunft“ sich selbst bestimmen kann? 
In der ersten Phase des Projekts ging es darum, entscheidende Schritte bei der Beantwortung der beiden Hauptfragen zu machen. Die interne Spannung von Autonomie und Willkür wurde einerseits im Rahmen einer phänomenologischen Rekonstruktion des kantischen Begriffs des praktischen Selbstbewusstseins normativitätstheoretisch eingeführt und andererseits durch eine Neudeutung der Konzeptionen des praktischen Urteilens und der praktischen Einbildungskraft subjektivitätstheoretisch begründet. Die zweite Phase des Projekts stand im Zeichen einer Auseinandersetzung mit den methodologischen Voraussetzungen der zentralen Argumentation. Sofern es darum ging, den internen Zusammenhang zwischen Kants Konzeption eines „Gesetzes der Freiheit“ mit seiner Konzeption der Wirklichkeit eines endlichen Willens aufzuzeigen, benötigte das Projekt eine Begrifflichkeit, die in der Lage ist, Überlegungen zur Normativität mit Überlegungen zur Wirklichkeit eines endlichen Subjekts zu verbinden. In Kants kritischer Philosophie gibt es ein Vokabular, das darauf zielt, exakt diese Verbindung zu erhellen: das Vokabular der Vorstellungsvermögen des Subjekts. Die besondere Leistung des Vermögensbegriffs liegt darin, Geltungsprinzipien zugleich als Realisierungsprinzipien auszuweisen. Sobald aber im Detail nachvollzogen wird, wie normative Prinzipien zugleich Vermögen eines endlichen Subjekts und mithin Prinzipien der Realisierung von Erfahrungen und Handlungen sein können, lässt sich zeigen, so die These des Projekts, dass inmitten der Erkenntnis und des Wollens eine Spannung insistiert, die im Fall eines endlichen und freien Willens auf eine Art „Selbstentzweiung“ hinausläuft. 
Das Forschungsprojekt wurde als Habilitationsschrift am 31. Januar 2018 unter dem Titel „Gesetz und Willkür: Studien zu den Begriffen des Vermögens und des freien Willens in Kants kritischer Philosophie“ am Fachbereich 08 der Goethe-Universität Frankfurt eingereicht und soll im Anschluss an das Habilitationsverfahren als Monografie veröffentlicht werden.

Die wichtigsten Publikationen sind:

Setton, Dirk (i.E.): „Das Gesetz der Freiheit als präreflexives Selbstbewusstsein: Kant mit Sartre“, in: V.L. Waibel/M. Ruffing (eds.): Akten des 12. Internationalen Kant-Kongresses ‚Natur und Freiheit‘ in Wien vom 21.-25. September 2015, Berlin: de Gruyter 2018.
Setton, Dirk (2015): „The Capacity to Sustain Receptivity Spontaneously: Imagination in Kant’s Theory of Experience“, in: Filozofski vestnik 34:2, pp. 155-172.
Setton, Dirk (2013): „Absolute Spontaneity of Choice: The Other Side of Kant’s Theory of Freedom“, in: Symposium. Canadian Journal of Continental Philosophy17/1, pp. 75-99.

Die wichtigsten Veranstaltungen des Forschungsprojekts waren:

Workshop „Revolution in der Denkungsart? Kants Religionsschrift in der Diskussion“ (gemeinsam mit Dr. Eva Buddeberg und Dr. Achim Vesper), 5.-6.10.2017, Exzellenzcluster „Normative Ordnungen“, Goethe Universität Frankfurt
Tagung: „Die Rezeptivität des Urteilens: Norm und Natur III“ (gemeinsam mit Prof. Christoph Menke), 23.-25.10.2014, Exzellenzcluster „Normative Ordnungen“, Goethe-Universität Frankfurt
Workshop: „Other Natures. Norm and Nature II“ (gemeinsam mit Dr. Thomas Khurana und Prof. Iain Macdonald), 30.4.-1.5.2014, Université de Montréal – Kooperativer Workshop des Départment de philosophie der Université de Montréal und des Exzellenzclusters „Normative Ordnungen“ der Goethe-Universität Frankfurt

Aktuelles aus dem Forschungszentrum

Veranstaltung
10.02.2026 | Frankfurt am Main

Satanic Politics. Democracy after Liberalism

Ringvorlesungen, Vortrag

Vortrag von Michael Rosen (Harvard University) im Rahmen der Ringvorlesung "Am Scheidepunkt? Zur Krise der Demokratie" im Wintersemester 2025/2026

weitere Infos ›
Veranstaltung
04.02.2026 | Frankfurt am Main

Demokratien verteidigen. Zur Aktualität des Gewaltbegriffs bei Camus und Derrida

Ringvorlesungen, Vortrag

Vortrag von Christine Abbt (Universität St. Gallen) im Rahmen der Ringvorlesung "Am Scheidepunkt? Zur Krise der Demokratie" im Wintersemester 2025/2026

weitere Infos ›
Veranstaltung
29.01.2026

Civil Geopolitics and the Dilemmas of the Democratic State

Ringvorlesungen, Vortrag

Vortrag von David Owen (Universtiy of Southampton) im Rahmen der Ringvorlesung "Am Scheidepunkt? Zur Krise der Demokratie" im Wintersemester 2025/2026

weitere Infos ›
Veranstaltung
14.01.2026 | Frankfurt am Main

Vortrag von Christine Hentschel (Universität Hamburg)

Ringvorlesungen, Vortrag

Vortrag von Christine Hentschel (Universität Hamburg) im Rahmen der Ringvorlesung "Am Scheidepunkt? Zur Krise der Demokratie" im Wintersemester 2025/2026

weitere Infos ›
Veranstaltung
10.12.2025 | Frankfurt am Main

How Democracy Relies on the Future

Ringvorlesungen, Vortrag

Vortrag von Jonathan White (LSE) im Rahmen der Ringvorlesung "Am Scheidepunkt? Zur Krise der Demokratie" im Wintersemester 2025/2026

weitere Infos ›
Veranstaltung
26.11.2025 | Frankfurt am Main

Krise der Demokratietheorie? Eine soziologische Intervention

Ringvorlesungen, Vortrag

Vortrag von Jenni Brichzin (Universität der Bundeswehr München) im Rahmen der Ringvorlesung "Am Scheidepunkt? Zur Krise der Demokratie" im Wintersemester 2025/2026

weitere Infos ›
Veranstaltung
27./28.11.2025 | Frankfurt am Main

Reconsidering Legal Subjectivity In and Through the Anthropocene

Konferenz

Internationale Konferenz organisiert vom Wissenschaftsnetzwerk Recht im Anthropozän (RiA) in Kooperation mit dem Forschungszentrum Normative Ordnungen.

weitere Infos ›
News
23.10.2025

Vinzenz Hediger wird neuer Direktor der Cinémathèque suisse

Prof. Dr. Vinzenz Hediger wird ab Januar 2026 Direktor der Cinémathèque suisse in Lausanne. Seit 1948 bewahrt, restauriert und fördert die Cinémathèque suisse das schweizerische und internationale Filmerbe. Sie wird von der Internationalen Föderation der Filmarchive (FIAF) als eine der zehn bedeutendsten Kinematheken der Welt anerkannt – aufgrund des Umfangs, der Vielfalt und der Qualität ihrer Sammlungen.

weitere Infos ›
News
23.10.2025

Buchvorstellung von Lea Ypis „Aufrecht - Überleben im Zeitalter der Extreme“ im Rahmen der Frankfurter Buchmesse

Im Rahmen der Buchvorstellung von Lea Ypis „Aufrecht - Überleben im Zeitalter der Extreme“ wurde am 15. Oktober über Fragen nach Würde, Identität, Freiheit und Verantwortung in Zeiten extremer historischer Veränderungen diskutiert.

weitere Infos ›