Knowing the Rules and Acting Politically. Friedrich Kratochwil and his Critics

Konferenz

Projektverantwortliche: Prof. Dr. Gunther Hellmann und Prof. Dr. Jens Steffek

Projektbeschreibung

Der „practice turn“ hat im vergangenen Jahrzehnt in zahlreichen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen seine Spuren hinterlassen. Das gilt auch für die „Internationalen Beziehungen“. Friedrich Kratochwil, der sich aufgrund seines breiten wissenschaftlichen Œuvres keineswegs auf die Internationalen Beziehungen reduzieren lässt, hier aber seine primäre disziplinäre Heimat sah, hat seit den 1980er Jahren zu dieser (zunächst unter dem Etikett „Konstruktivismus“ verhandelten) sozialtheoretischen Perspektive, einflussreiche Beiträge geliefert. Sein neuestes Buch, das gleichsam als große Synthese seines Lebenswerks zu verstehen ist, ist vor wenigen Wochen bei Cambridge University Press erschienen („Praxis. On Acting an Knowing“) und u.a. auch das Ergebnis seines Forschungsaufenthaltes am Cluster „Normative Orders“. Weil dieses grundlegende Werk nicht nur ein willkommener Anlass zur breiteren Würdigung des Lebenswerks von Fritz Kratochwil ist, sondern auch in unterschiedlicher Form Anknüpfungspunkte zum neuen Forschungsprogramm des Clusters liefert, wird eine „book making“-Konferenz veranstaltet, die seinen Praxisbegriff zum einen im Hinblick auf bestimmte grundlegende Wissenspraktiken (vgl. „Praxis“, Kap. 8-10) hin diskutiert und zum anderen das Potenzial eines prozessual verstandenen, sich in konkreter, d.h. situativer Praxis manifestierenden – und eben gerade nicht auf quasi-habituelle Praktiken reduzierbaren – Handlungsbegriffes für dieHerausbildung von Normen wie auch die Artikulation von (internationaler) Politikin unterschiedlichen Formen (etwa Gewalt) auslotet.

Die Zusammenhänge mit dem Forschungsprogramm sehen wir dabei im Einzelnen wie folgt: Themenbereich 4 des neuen Konzeptpapiers befasst sich mit dem „Ende universalistischer Normensysteme“ und unterstellt bereits hypothesenartig, dass wir diesen Niedergang aktuell beobachten können. Die Auseinandersetzung mit dem Konzept der Praxis im Rahmen unserer geplanten Tagung ist in diesem Kontext zu sehen, denn sie ermöglicht einen alternativen Zugang zum Studium universalistischer Normensysteme und ihres (möglichen) Niedergangs. Dieser Zugang unterscheidet sich fundamental von traditionellen Ansätzen im Bereich der IB und des Völkerrechts, die die soziale Geltung eines internationalen Normensystems am Grad der „compliance“ bzw. „non-compliance“ abzulesen versuchen. In dieser Perspektive wäre das Ende universalistischer Normensysteme durch non-compliance gekennzeichnet. Im Gegensatz dazu fokussiert eine praxisorientierte Perspektive auf die alltäglichen sozialen Handlungen, die von Normen angeleitet, informiert oder gerahmt sind. Dies eröffnet nicht zuletzt eine kritische Perspektive, in der wir nicht Normen und Prinzipien als gegeben annehmen (und dann eventuell noch beobachtetes Verhalten damit abgleichen), sondern ihre Wirkung erst in alltäglichen Handlungszusammenhängen untersuchen, in denen diese Normen gewissermaßen „gelebt“ und operationalisiert werden. Ein Niedergang universalistischer Normensysteme würde sich folglich nicht darin zeigen, dass diese Normen rhetorisch herausgefordert oder in markanten Einzelfällen missachtet werden. Es wäre vielmehr nachzuweisen, dass diese Normen in den konkreten und alltäglichen Praktiken der internationalen Beziehungen keine Rolle mehr spielen. Friedrich Kratochwil ist unser Referenzautor, weil er eine elaborierte Theorieperspektive anbietet, an der man sich abarbeiten kann. Nicht zuletzt muss man die Frage stellen, wie man Kratochwils „meditations“ praktisch nutzen kann, d.h. wie sie Forschungen zu konkreten Gegenständen anleiten können.

Kratochwils jüngstes Buch eignet sich zudem für einen neuen Blick auf den Umgang mit Gewalt. Die im Forschungsprogramm zurecht hervorgehobenen neuen Formen der Gewalt (und ihrer Rechtfertigung; vgl. #5a) stellen notwendigerweise neue Herausforderungen an die Formulierung angemessener politischer Antworten vor dem Hintergrund bestehender bzw. fortzuschreibender normativer Ordnungen. Gerade hinsichtlich der von Kratochwil (auch grundlegend theoretisch erarbeiteten) hervorgehobenen genuinen Historizität des Handelns stellen sich neue Anforderungen an die Untersuchung (Theoretisierung) des Wechselspiels zwischen Gewalt und ihrer politischen bzw. rechtlichen Einhegung. Hierbei ist eine systematische Rekonstruktion grundlegender Praktiken im Feld der Eindämmung von Gewalt (vgl. die Kap. zu den Praktiken der „Sanktionierung“ und der „Bestrafung“ wie auch des „Urteilens“ und des „Kommunizierens“ in seinem neuen Buch) besonders hilfreich, weil ein im einschlägigen Gebrauch gründendes, aber auch systematisch in praktisch-theoretische Kontexte rückgebundenes begriffliches Instrumentarium verfügbar wird, das im Blick auf kontingente Handlungskontexte bei der Erarbeitung (bzw. Theoretisierung) sachangemessener und rechtfertigbarer politischer Antworten (etwa) auf neue Formen der Gewalt besonders hilfreich ist — gerade weil es um seine kontingente Situierung weiß („knowlegde (…) is acquired through participation in (…) am existing historical society“, S.11).

Konferenz
Praxis as a Perspective on International Relations and Law. Friedrich Kratochwil and his Critics
12. und 13. Juli 2019

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