Das Völkerrecht und seine Wissenschaft, 1789-1914

Projektleiter: Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Michael Stolleis

Das Projekt untersuchte paradigmatische Veränderungen rechtlicher Strukturen in den internationalen Beziehungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Von Interesse waren sowohl Völkerrechtspraxis als auch Völkerrechtswissenschaft. Das Ziel lag darin, in einem interdisziplinären Forschungszusammenhang das Völkerrecht als einen eigenen Typus normativer Ordnung zu begreifen und seine historischen Strukturmerkmale zu analysieren: Welche Ziele und Werte konstituiert das Völkerrecht des 19. Jahrhunderts? Wer waren die Akteure und welcher juristischen Instrumente bedienten sie sich? In welcher Form universalisierten sich globale Normen und Ordnungen?

Als Ergebnis stellte sich dabei heraus, dass die internationalen Strukturen im Forschungszeitraum eine bemerkenswerte Entwicklung aufweisen: Zwischen dem Ende des Ancien Régime und bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs entwickelte sich das Völkerrecht von einem Koexistenz- zu einem Kooperationsrecht. Neue internationale Regimes zur Regulierung von mannigfaltigen politischen, sozialen und ökonomischen Interessen wurden gegründet, die Staatenbeziehungen verrechtlichten sich; zugleich waren aber auch Bereiche zu beobachten, in denen Rechtsvermeidung dominierte (Staatsschulden; Interventionsrecht). Heute noch gültige Prinzipien wie die Grundrechte der Staaten oder die internationale Gemeinschaft traten hervor. Zwischenstaatliche Organisationen begannen, die internationalen Beziehungen zu gestalten. Dabei lässt sich sowohl eine Trennung des Völkerrechts von der Moral als auch die Übernahme von Tätigkeitsfeldern beobachten, die eine „Moralisierung“ des Rechts bedeuten.

Dieser Wandel in der Völkerrechtspraxis wird publizistisch begleitet, forciert und reflektiert durch zahlreiche Völkerrechtswissenschaftler. Neben einzelnen Autoren, von denen nur beispielhaft Georg Friedrich von Martens, Theodor Schmalz, Julius Schmelzing, Friedrich Saalfeld, Carl Baron Kaltenborn von Stachau, Robert von Mohl, Henry Wheaton, August Wilhelm Heffter, August von Bulmerincq, Carl Bergbohm, Johann Caspar Bluntschli, Leopold Neumann, James Lorimer, William Edward Hall, Fedor Fedorowitsch von Martens, Carlos Calvo, Henry Bonfils, Franz von Liszt, John Westlake, Frantz Despagnet und Lassa Oppenheim genannt werden sollen, zeugt insbesondere die Gründung des Institut de Droit International von Bedeutung und Einfluss der Wissenschaft auf das sich neu erfindende völkerrechtliche Normensystem.

Die Analyse der wissenschaftlichen Begleitung des Verrechtlichungsprozesses durch die völkerrechtswissenschaftlichen und staatswissenschaftlichen Autoren war hierbei ein besonderes Anliegen der Forschungen der Projektgruppe: Sie kommentierten die im Verlauf des 19. Jahrhunderts erfolgten Institutionalisierungen und begleiteten die Prozesse der Aushandlung einer internationalen normativen Ordnung in ihren zeitgenössischen Interpretationen und historischen Narrativen. Dabei entwarfen sie oft affirmative, selten alternative Ordnungsvorstellungen. Die Frage nach universalistischen Gerechtigkeitsansprüchen einer Weltordnung, sei es ausgehend von der Völkermoral oder der Forderung nach gleichen Verträgen bis hin zur Abwicklung von Staatsbankrotten, die sich in und durch Völkerrecht vollzogen, stellte sich hierbei als ein Aspekt heraus, genauso wie die Entstehung und Etablierung allgemeiner Rechtsprinzipien des Völkerrechts unter Berücksichtigung des zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurses.

Die Ergebnisse liegen in Form mehrerer Monographien und Sammelbände vor. Zu den wichtigsten zählen: 
Nuzzo, Luigi/Vec, Miloš (Hg.) (2012): Constructing International law – The Birth of a Discipline (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 273), Frankfurt/M.: V. Klostermann, XVI, 545 S. 
Heimbeck, Lea (2013): Die Abwicklung von Staatsbankrotten im Völkerrecht. Verrechtlichung und Rechtsvermeidung zwischen 1824 und 1907, (Studien zur Geschichte des Völkerrechts), Baden-Baden: Nomos.
Stefan Kroll (2012): Normgenese durch Re-Interpretation. China und das europäische Völkerrecht im 19. und 20. Jahrhundert (Studien zur Geschichte des Völkerrechts 25), Baden-Baden: Nomos.
Klump, Rainer/ Vec, Miloš (Hg.) (2012): Völkerrecht und Weltwirtschaft im 19. Jahrhundert (Studien zur Geschichte des Völkerrechts 26), Baden-Baden: Nomos, VII, 271 S. 
Lovric-Pernak, Kristina (2013): Morale internationale und humanité im Völkerrecht des späten 19. Jahrhunderts. Bedeutung und Funktion in Staatenpraxis und Wissenschaft (Studien zur Geschichte des Völkerrechts 30), Baden-Baden: Nomos, 200 S. 

Zu den wichtigsten Veranstaltungen im Forschungsprojekt zählen
„Storia teoria e diritto internazionale. La costruzione di una disciplina“, International Conference, Lecce (Italy) 20.-22. Mai 2009, “Völkerrecht und Weltwirtschaft im 19. Jahrhundert. Die Internationalisierung der Ökonomie aus völkerrechts- und wirtschafts(theorie-)geschichtlicher Perspektive”, Workshop, 3.-4. September 2009 in Frankfurt am Main, Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte und „The Emergence and Transformation of Foreign Policy.“ International Conference, Johns Hopkins University, Bologna, 10.-12.6.2011.

Weitere Informationen unter: https://www.rg.mpg.de/forschung/voelkerrechtsgeschichte

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