Jonathan White über Zukunftsdenken in Demokratien
Zum zweiten Termin der Ringvorlesung „Am Scheidepunkt? Zur Krise der Demokratie“ diskutierte der Politikwissenschaftler Jonathan White Sichtweisen auf die Zukunft innerhalb von Demokratien und die Notwendigkeit einer Zukunftsbezogenheit in Demokratien. White führte zu Beginn unterschiedliche öffentliche Diskurse an, in denen die Zukunft Einfluss auf gegenwärtige Politik nehme. Anders als manchmal beschrieben, sei die Zukunft seit dem Ende der Gegenüberstellung unterschiedlicher politischer und ökonomischer Systeme im 20. Jahrhundert nicht verloren gegangen. Aber es habe eine qualitative Veränderung stattgefunden, bei der die Zukunft – wenngleich noch immer sehr präsent – vielmehr als etwas verstanden werde, auf das reagiert wird, denn als etwas, das aktiv in der Gegenwart geformt werden kann.


Die Zukunft sei in Demokratien eine wichtige Quelle unterschiedlicher emanzipatorischer Strömungen: Sie ermögliche zum Beispiel in Form von Utopien eine kritische Perspektive auf die Gegenwart und könne als geteilte Vorstellung eines Zu-Erreichenden kollektive Identitäten formen. Allerdings mit Einschränkungen. So verweist White auch auf Gefahren des Verabsolutierens von Zukunftsvorstellungen: Wenn eine Version der Zukunft als finale, abschließende Losung verstanden werde, sei damit das Potenzial undemokratischer Mittel zur Erreichung der Zukunft eröffnet und naheliegend. Demokratische Zukunft müsse jedoch immer die Möglichkeit der Korrektur, beispielsweise der zukünftigen anderen Wahlentscheidung, enthalten.
Gegenwärtig sieht White vielmehr einen wachsenden Opportunismus als prominente Entwicklung. Opportunismus zeichne sich dabei für ihn durch das regelmäßige Adaptieren unterschiedlicher Positionen und eine damit eng verbundene Indifferenz gegenüber politischen Prinzipien aus. Dies sei als eine Art Ersatz an die Stelle von wirklicher zukunftsorientierter Politik gerückt.



Ein solcher Opportunismus sei besonders habe einer sich schnell verändernden Welt, die mit Katastrophen und katastrophisierendem Denken konfrontiert ist, leichtes Spiel. Es gebe deshalb kein Ende der Zukunft, aber es müsse den Ideen einer Zukunft, der man machtlos ausgeliefert ist, entgegengetreten werden. Weil die Demokratie Zukunft brauche.
Jonathan White ist stellvertretender Leiter des European Institute und seit 2008 Professor für Politik an der London School of Economics. Er war u. a. in Harvard, Stanford, am Wissenschaftskolleg zu Berlin und an der Sciences Po tätig. Zuletzt erschien von ihm „In the Long Run. The Future as a Political Idea“