Die Ergebnisse der NRW-Wahlen verschärfen die Frage: Bröckelt der Widerstand gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD? Der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher erklärt, warum das die Union in eine existenzgefährdende Krise stürzen würde.
INTERVIEW VON PETER LAUDENBACH
Thomas Biebricher, Professor an der Universität Frankfurt, forscht seit Jahren zur Krise des Konservativismus. Seine Diagnose: Erst die Schwäche christdemokratischer und gemäßigt konservativer Parteien hat in mehreren europäischen Ländern den Aufstieg des autoritären Rechtspopulismus ermöglicht.
SZ: Herr Biebricher, Markus Söder hat vor Kurzem in einer Bierzelt-Rede vor einer Regierungsbeteiligung der AfD gewarnt. Richtet sich die Warnung an seine eigenen Parteifreunde in CDU und CSU, falls sie über eine mögliche Zusammenarbeit mit der AfD nachdenken?
Thomas Biebricher: So etwas kommt immer wieder mal von Markus Söder, der ja das Talent hat, sehr viele Positionen unter einen Hut zu bringen. Diese Warnung erklärt sich ein Stück weit durch die letzten Umfrageergebnisse in Sachsen-Anhalt. Bei den Landtagswahlen im kommenden Jahr könnte die AfD dort stärkste Partei werden. Die wahrscheinlichste Option für die AfD, an die Regierung zu kommen, ist natürlich eine Koalition mit der Union. In Sachsen-Anhalt bietet der Landesverband der CDU auch Anlass dazu, über so ein Szenario nachzudenken.
Im Juli hat die Bundestagsfraktion der AfD ein Strategiepapier zum „Ende der Brandmauer“ vorgelegt. Im Kern besteht das Ziel darin, die Zusammenarbeit der CDU mit SPD und Grünen möglichst zu verhindern. Wie soll das gehen?
Die gescheiterte Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin ist ein Paradebeispiel dafür, wie das gelingen kann. Teile der CDU-Fraktion haben sich nicht an die Absprachen zwischen Union und SPD gebunden gefühlt. Es genügte, den Schutz des ungeborenen Lebens als Polarisierungs-Trigger zu pushen.
Damit „der Graben zwischen Union und den linken Parteien nicht mehr überbrückt werden kann“, wie es die AfD in ihrem Strategiepapier formuliert?
Exakt. Es gibt Akteure, die sich zwischen der Union und einer politischen Nähe zur AfD bewegen. So jemand ist beispielsweise die Brandenburger CDU-Bundestagsabgeordnete Saskia Ludwig. Sie hat bei der Verhinderung der Richterinnen-Wahl eine gewisse Rolle gespielt und sogar öffentlich die Abberufung von Frau Brosius-Gersdorf von ihrem Potsdamer Lehrstuhl gefordert.
Sind für dieses Milieu zwischen dem rechten Rand der Union und der AfD auch Medien wie der Krawall-Sender „Nius“ oder die Kampagnen-Agentur „The Republic“ als öffentliche Lautsprecher von Bedeutung?
Es gibt inzwischen ein eigenes Medien-Ökosystem, das dieses Feld bewirtschaftet. Auch „Welt-TV“ aus dem Springer-Konzern geht in diese Richtung. Es gibt in der Union Leute, die für die Botschaften empfänglich sind, die da gesendet werden. Sie halten Nius für ein relevantes Medium, weil sie glauben, dass sie dort ihre Basis erreichen. Wenn Nius und andere eine Kampagne fahren und die Wahl einer von der SPD nominierten Juristin für das Verfassungsgericht skandalisieren, funktioniert das offenbar. Man benutzt kalkuliert das sensible Thema der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch, um einen Keil zwischen SPD und Teile der CDU zu treiben. Wenn sich dieses Muster wiederholt, stellt sich natürlich irgendwann die Frage der Tragfähigkeit der Koalition.
Werden solche Belastungsproben die CDU in Zukunft begleiten?
Das Problem der CDU ist, dass sie sich jetzt öfter in Koalitionen mit mehreren Parteien wiederfindet, von denen die meisten links von ihr angesiedelt sind. Das macht es natürlich kompliziert. Ich sehe schon die Gefahr, dass sich in der Union irgendwann der Eindruck verfestigt, dass man in diesen Koalitionen gefangen ist. Teile der CDU glauben dann vielleicht, bestimmte Dinge besser zusammen mit der AfD umsetzen zu können.
Und während die CDU mit SPD, Grünen oder dem BSW koaliert, wirft ihr die AfD Verrat vor …
… mit dem Ziel, die CDU zu spalten. Alles, was die CDU in Regierungsverantwortung erreicht, etwa in der Migrationspolitik, ist aus Sicht der AfD immer zu wenig. Die AfD kann der Union die ganze Zeit vorwerfen, sie mache nicht die Politik, die sie versprochen hat, und das nicht nur bezogen auf Migration, sondern zum Beispiel auch in der Wirtschaftspolitik. Das ist ja auch in diesem AfD-Strategiepapier skizziert.
Wie entkommt die Union dieser Zwickmühle?
Jedenfalls nicht, indem sie Positionen der AfD übernimmt. Die Union muss sehr genau überlegen, ob sie sich einreden lassen will, dass sie mit der AfD ihre politischen Ziele erreichen kann. Es stimmt ja nicht, dass die CDU in der Landesregierung in Thüringen nicht handlungsfähig wäre oder dass die Bundesregierung eine besonders linke Politik betreiben würde. In der Migrationspolitik oder Steuerpolitik wird viel von dem umgesetzt, was CDU und CSU versprochen haben. Vielleicht sind Koalitionen mit linken Parteien für die CDU besser, als sie selbst glaubt.
Weshalb?
Weil sie in dieser Konstellation relativ weitreichende Ziele gegen geringere Widerstände durchsetzen kann. Das gilt für die Migrationspolitik, aber auch für die möglicherweise anstehenden Sozialreformen. Die Union tut sich keinen Gefallen, wenn sie sich das Narrativ zu eigen macht, sie sei gelähmt in eine Art babylonischer Gefangenschaft mit lauter linken Koalitionspartnern. Setzt sich diese Erzählung durch, die von rechts die ganze Zeit befeuert wird, könnte eine gefährliche Dynamik entstehen.
Weshalb sind dabei Kulturkampfthemen wie Gendersprache, Rechte für trans Personen oder die Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch für die AfD besonders ergiebig?
Man muss aufpassen, dass man nicht alles immer gleich zu Kulturkämpfen erhebt. Aber diese Themen sind für die AfD attraktiv, weil sie sehr schnell das entwickeln, was die Sozialwissenschaft affektive Polarisierung nennt. Die AfD kann über solche Themen am ehesten einen Keil in die oder zwischen die sogenannten Mitte-Parteien treiben. Es gibt zwischen SPD und CDU eben unterschiedliche Vorstellungen, etwa zur Frage des Schwangerschaftsabbruchs oder der Ehe für alle. Da gibt es möglicherweise größere Schnittmengen zwischen AfD- und CDU-Wählern. Viele von ihnen werden wahrscheinlich sagen, es gibt nur zwei Geschlechter, was soll diese ganze Diskussion.
Also ist es im Interesse der AfD, Themen der Identitätspolitik zu skandalisieren?
Das ist so. Das sind vergiftete Geschenke für Konservative, die glauben, dass die Verteidigung traditioneller Werte und Lebensformen eigentlich ihr Terrain sei. Dabei durchschauen sie nicht ausreichend, dass das Polarisierungspotenzial dieser Konflikte vor allem den Akteuren rechts außen nützt. So wichtig sind den Leuten an der Basis diese Fragen auch nicht. Die Union muss nicht über Gender-Verbote, sondern über Wirtschaftspolitik sprechen. Und die SPD muss über Renten, Mindestlohn und Mieten sprechen. Das sind die entscheidenden Themen, nicht Identitätspolitik.
Hilft es der identitätspolitischen Polarisierungsstrategie der AfD eigentlich, wenn Julia Klöckner als Präsidentin des Bundestages beim CSD die Regenbogenfahne am Reichstagsgebäude verbietet?
Man könnte sich auch von linker Seite fragen, ob man über jedes Stöckchen springen und Klöckners Entscheidung unbedingt skandalisieren muss. Aber natürlich betreibt Frau Klöckner damit Symbolpolitik. Der größere Rahmen ist, dass es die Regierung mit lauter Problemen zu tun hat, die sie nicht über Nacht lösen kann. Die Brücken und die Infrastruktur lassen sich nicht so schnell reparieren. Die geostrategische und wirtschaftliche Lage ist schwierig. Aber eine Regierung braucht trotzdem etwas, das sie kurzfristig als Erfolg und als Unterschied zur Vorgängerregierung vorweisen kann. Dafür sind solche Signale des Kulturkampfs hilfreich – etwa, indem man die Regenbogenfahne am Reichstagsgebäude oder Gendersternchen im amtlichen Schriftverkehr untersagt. Das kann man einfach anordnen. Oder man sorgt an der Grenze für Szenen, wo Leute abgewiesen werden. Auch das ist nicht weit von Symbolpolitik entfernt. Man will eben der eigenen Wählerschaft energisches Handeln demonstrieren.
Haben die Äußerungen des Kulturstaatsministers Weimer eine ähnliche Funktion, wenn er dauernd die Gefahren einer linken Cancel Culture beschwört und mit rechten Bedrohungen der Demokratie gleichsetzt?
Das kennt man ja unter dem Begriff der Hufeisen-Theorie. Diese Betonung der Äquidistanz zum linken wie zum rechten Rand ist der Versuch, für die Union eine Positionierung in der Mitte zu behaupten. Nach meiner Ansicht kaschiert das eine offenkundige inhaltliche Leere. Die Union hat programmatisch wenig vorzuweisen. Wenn diese ausgiebig beschworene Mitte nicht weiß, wofür sie steht, außer für Marktliberalismus, reicht das nicht aus.
Macht das die CDU in der Auseinandersetzung mit der AfD angreifbar?
Ich finde schon. Es ist ja keine Programmatik und keine Strategie, wenn der CDU-Generalsekretär in jedem Interview wiederholt, man müsse einfach mal machen. Wenn man programmatisch so dünn aufgestellt ist, dann lässt man sich leicht in die eine oder andere Richtung ziehen. Und dann stimmt man auch mal gemeinsam mit der AfD im Bundestag für einen Entschließungsantrag zur Migrationspolitik.
Weshalb ist die CDU programmatisch so schwach?
Sie hat sich in den Jahren der Opposition lange in der Behauptung eingerichtet, dass niemand in irgendeiner Weise sein Leben verändern müsse, dass Verzicht überflüssig sei. Den Grünen hat man ein Bevormundungs-Label angehängt und sich selbst als die Partei inszeniert, die dafür sorgt, dass sich nichts ändert und, salopp gesagt, alle machen können, was sie wollen. Das macht es natürlich schwierig, jetzt die nötigen, anstrengenden Transformationsprozesse zu gestalten. Stattdessen rettet man sich in eine Art Wunschdenken, dass Marktkräfte plus Technologie es schon richten werden.
Werden die Befürworter einer wie auch immer gearteten Kooperation mit der AfD in der Union stärker?
Ich halte das immer noch für eine marginale Position, zumindest auf Bundesebene und an der Parteispitze. Ich bin sicher, dass Leute wie der Bundeskanzler, Markus Söder, die CDU-Ministerpräsidenten, der Bundesvorstand und vielleicht auch Jens Spahn sehr genau wissen, dass eine Zusammenarbeit mit der AfD nicht klug ist und weder dem Land noch der Union helfen würde; Akteure, die das vertreten, etwa die Werteunion, die Kampagnen-Agentur The Republic oder der Thinktank R21 um den Historiker Andreas Rödder verfügen in der Union aus meiner Sicht allenfalls über recht überschaubaren Einfluss.
Also, kein Grund zur Besorgnis?
Na ja, wir haben ja schon über Sachsen-Anhalt gesprochen. In Thüringen und Sachsen-Anhalt sind in der Union die Vorbehalte gegenüber der AfD nicht bei allen unüberwindbar. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass sich dort eine CDU-Landtagsfraktion dafür entscheidet, es mal mit der AfD zu versuchen. Das kann auch halb durch Zufall geschehen, und in der Situation kriegt man es dann möglicherweise nicht mehr eingefangen.
Und dann?
Wenn das einmal passiert ist, vielleicht nur für kurze Zeit, wird das die gesamte Union vor eine enorme Zerreißprobe stellen. Das wird die CDU nicht unbeschadet überstehen, und nicht nur, weil dann auch andere Landesverbände auf die Idee kommen können, sich für eine Zusammenarbeit mit der AfD zu öffnen. Alle möglichen Konfliktlinien werden richtig virulent werden, zwischen Ost- und West-CDU, zwischen Stadt- und Land-CDU, zwischen Bundesebene und den Ländern, zwischen den unterschiedlichen Milieus in der Partei. Das kann eine Dynamik entwickeln, die man nicht mehr unter Kontrolle bekommt.
Obwohl Sachsen-Anhalt und Thüringen nur zwei kleine Bundesländer sind?
Der Tabubruch hätte bundesweit schwerwiegende Folgen für die gesamte Union, und damit auch für die Stabilität der liberalen Demokratie insgesamt. Da bin ich mir ziemlich sicher.
„Die Union hat programmatisch wenig vorzuweisen.“
Thomas Biebricher, 51, ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt. Sein 2023 erschienenes Buch „Mitte/Rechts“ zur Krise des Konservatismus ist ein Standardwerk.