Zivilverfassungen in der Weltgesellschaft

Projektleiter: Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Gunther Teubner

Das Projekt beschäftigte sich mit zwei Fragen: Lassen sich jenseits des Nationalstaats konstitutionelle Prozesse im globalen Raum identifizieren? Lassen sich jenseits des Nationalstaats Verfassungselemente in nicht-staatlichen, gesellschaftlichen, „privaten“ globalen Kontexten identifizieren? Das Ziel war empirische und normative Voraussetzungen der Verfassung transnationaler privater Regimes zu klären.

Die Verfassung der Weltgesellschaft verwirklicht sich nicht exklusiv in den Stellvertreter-Institutionen der internationalen Politik, sie kann aber auch nicht in einer alle gesellschaftlichen Bereiche übergreifenden Weltverfassung stattfinden, sondern sie entsteht inkrementell in der Konstitutionalisierung einer Vielheit von autonomen weltgesellschaftlichen Teilsystemen.

Die Frage nach der „horizontalen“ Grundrechtswirkung im transnationalen Raum, also die Frage, ob Grundrechte nicht nur staatlichen, sondern auch privaten Akteuren unmittelbare Verpflichtungen auferlegen, nimmt sehr viel dramatischere Dimensionen an, als sie im nationalen Raum je hatte. Hier fehlt es an der Allgegenwart nationalstaatlichen Handelns und nationalstaatlichen Rechts, so dass die herkömmlichen dogmatischen Konstrukte der state action und der strukturellen Grundrechtswirkung nur in wenigen Konstellationen greifen. Auf der anderen Seite regulieren transnationale Privatakteure, insbesondere multinationale Unternehmen, ganze Lebensbereiche, so dass der Frage nicht mehr ausgewichen werden kann, wie es mit der Geltung von Grundrechten in privaten transnationalen Ordnungen steht.

In verschiedenen globalen Regimes sollten die zwei Thesen der regimespezifischen Organisationsverfassung und der ebenso regimespezifischen Grundrechtsgeltung im Detail geprüft werden. Im Vordergrund stand die Frage eines globalen Verfassungspluralismus – Heteronomie oder Autonomie der gesellschaftlichen Konstitutionalisierungsprozesse? Inwieweit handelt es sich dabei um die konstitutionelle Selbstorganisation globaler Regimes? Inwieweit werden hier den transnationalen Regimes von außen her verfassungsrechtliche Normen oktroyiert? Oder handelt es sich um ein komplexes Zusammenspiel interner Selbstorganisation und externer konstitutioneller Vorgaben? Das führt letztlich auf die Frage, ob ein universaler, wenngleich fragmentierter, „politischer“ Verfassungsbegriff auch für die Weltgesellschaft Sinn macht oder ob stattdessen nur eine Vielheit von Partikularverfassungen der Eigenrationalität und Eigennormativität autonomer weltgesellschaftlicher Sektoren zu erwarten ist, deren Integration dann zum Hauptproblem eines weltgesellschaftlichen Konstitutionalismus wird.

Endresultat sind hauptsächlich zwei sich gegenseitig ergänzende Monografien. Prof. Teubner befasste sich mit dem Thema der globalen Zivilverfassungen primär aus einer juristischen Perspektive. Prof. Kjaer nahm eine eher sozialwissenschaftlichen Perspektive ein. Erreicht wurde damit eine intensive wechselseitige Beeinflussung der Disziplinen und zugleich eine Vertiefung innerhalb der jeweiligen Disziplin.

Prof. Teubners Forschungen über gesellschaftlichen Konstitutionalismus in der Globalisierung knüpften an eine Reihe von öffentlichen Skandalen an, die in den letzten Jahren die „Neue Verfassungsfrage“ aufgeworfen haben. Menschenrechtsverletzungen durch multinationale Unternehmen, Korruption im Medizin- und Wissenschaftsbetrieb, Bedrohung der Meinungsfreiheit durch private Intermediäre im Internet, massive Eingriffe in die Privatsphäre durch Datensammlung privater Organisationen und mit besonderer Wucht die Entfesselung katastrophaler Risiken auf den weltweiten Kapitalmärkten – sie alle werfen Verfassungsprobleme im strengen Sinne auf. Ging es früher um die Freisetzung der politischen Machtenergien des Nationalstaats und zugleich um ihre wirksame rechtsstaatliche Begrenzung, so geht es in der Neuen Verfassungsfrage darum, ganz andere gesellschaftliche Energien, besonders sichtbar in der Wirtschaft, aber auch in Wissenschaft und Technologie, in der Medizin und in den neuen Medien, freizusetzen und diese in ihren destruktiven Auswirkungen wirksam zu beschränken. Konstitutionalismus jenseits des Nationalstaats – das heißt zweierlei: Die Verfassungsprobleme stellen sich außerhalb der Grenzen des Nationalstaats in transnationalen Politikprozessen und zugleich außerhalb des institutionalisierten Politiksektors in den „privaten“ Sektoren der Weltgesellschaft. Prof. Teubners Forschungen beschäftigten sich im Projekt mit den folgenden Komplexen: (1) Gesellschaftliche Teilverfassungen im Nationalstaat, (2) Transnationale Verfassungssubjekte: Regimes, Organisationen, Netzwerke, (3) Transnationale Verfassungsnormen: Funktionen, Regelungsbereiche, Prozesse, Strukturen (4) Transnationale Grundrechte: Horizontalwirkung (5) Kollision und Vernetzung transnationaler Verfassungen.

Prof. Kjaer rekonstruierte die historische Evolution von staatlichen und transnationalen Verfassungsstrukturen, besonders das Verhältnis zwischen der Globalisierung moderner Staatlichkeit und der Entstehung von privaten und öffentlichen transnationalen Verfassungsstrukturen, von der Europäischen Union über die Welthandelsorganisation bis zu Multinationalen Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen. Ein besonderer Schwerpunkt war das Verhältnis zwischen den Dekolonisierungsprozessen in der Mitte der 20. Jahrhundert und der Entstehung neuartiger privater und öffentlicher Formen von global governance. Im Anschluss daran wurde eine Rekonstruktion des Verfassungsbegriffes unternommen, um einen zeitgemäßen Verfassungsbegriff zu entwickeln.

Zu den wichtigsten Publikationen im Forschungsprojekt zählen: 
Teubner, Gunther (2012): Verfassungsfragmente: Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung, Berlin: Suhrkamp. 
Poul Kjaer (2014): Constitutionalism in the Global Realm – A Sociological Approach, London: Routledge.
Poul Kjaer (2010): Between Governing and Governance: On the Emergence, Function and Form of Europe’s Post-national Constellation, Oxford: Hart Publishing.

Zu den wichtigsten Veranstaltungen zählen: 
„After the Catastrophe? International Conference on Economy, Law and Politics in Times of Crisis”, Thursday 25 March – Saturday 27 March 2010, Goethe University Frankfurt.
International Conference “Transnational Societal Constitutionalism”, Torino, 17-19 May 2012.

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Der Artikel „Ideology and Suffering: What Is Realistic about Critical Theory?“ von Amadeus Ulrich ist soeben Open Access im European Journal of Political Theory (EJPT) erschienen. Ulrich bringt darin die Perspektive des radikalen Realismus mit der kritischen Theorie Adornos in einen produktiven Dialog.

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Prof. Dr. Franziska Fay (Juniorprofessorin für Ethnologie mit dem Schwerpunkt Politische Anthropologie Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und ehemalige Postdoktorandin des Forschungszentrums Normative Ordnungen der Goethe-Universität) erhält den Sibylle Kalkhof-Rose-Universitätspreis 2025 in der Kategorie Geistes- und Sozialwissenschaften.

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