Strafen als Arbeit am Mythos
Abstract
Unter den vielfältigen Wirkungen des Erdbebens von Lissabon im Jahre 1755 jenseits der unzähligen Todesopfer und Zerstörungen befindet sich nicht zuletzt auch die damals in ganz Europa heftig diskutierte Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt, das Problem der Theodizee. Wie konnte es sein, dass ein gerechter, allmächtiger und allgütiger Gott den Tod so vieler Menschen zuließ, zumal dann, wenn sie gläubige Christen oder sogar noch ohne Sünde waren wie die vielen kleinen Kinder? Solche Fragen insinuieren einen normativen Zusammenhang zwischen dem Erdbebentod eines Menschen und seinem religiösen oder moralischen Lebenswandel. Eine Naturkatastrophe wie ein Erdbeben hat nach dieser Auffassung etwas zu tun mit der moralisch-religiösen Güte oder Verwerflichkeit der Handlungen der Betroffenen. Der Erdbebentod, so lautet die Hypothese, könnte die göttliche Strafe für ein verschuldetes religiös-moralisches Unrecht sein. Erst wenn man diese Hypothese zugrunde legt, wird ein Erdbeben, das überwiegend mehr oder weniger Unschuldige trifft, zum Skandal, zur extremen Herausforderung für eine Theodizee. In der Gegenrichtung bedeutet dies, dass ein verschuldetes Unrecht, mag es durch ein irdisches Gericht gesühnt werden oder nicht, notwendigerweise ein natürliches Übel heraufbeschwört, das den Täter als eine Strafe treffen wird, sei es im Himmel oder auf Erden.