Normentransfer, Aneignung von Normen und Camouflage normativer Ordnungen

Projektleiter: Prof. Dr. Karl-Heinz Kohl

Im Verlauf der Arbeiten an diesem Teilprojekt kam es zu zwei thematischen Schwerpunktsetzungen. Die Untersuchungen des Projektleiters konzentrierten sich auf die Frage, welche Rolle die Ethnologie bei der im Zuge des wechselseitigen Kulturtransfers vor sich gehenden Rekonstruktion traditioneller Ordnungen spielte, während die Mitarbeiterin des Teilprojekts, Katja Rieck, die Transformation indischer ökonomischer Gegendiskurse im frühen 20. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Entstehung der Unabhängigkeitsbewegung untersuchte. Die beiden Themen hängen insofern eng zusammen, als es sich im einen wie im anderen Fall um eine spezifische Form der „Wiederaneignung“ von Traditionen handelt: Bilder der eigenen Kultur werden ins Positive gewendet und zur Legitimation sowohl von anti-kolonialen Widerstandsbewegungen als auch von postkolonialen Ordnungen herangezogen. 

Der Projektleiter ging dieser Fragestellung am Beispiel der Indigenitätsbewegungen in den ehemaligen britischen Siedlerkolonien nach. Dabei legte er einen Schwerpunkt seiner Untersuchungen auf die seit den späten 1980er Jahren zu beobachtenden transnationalen Kooperationen zwischen nicht-staatlichen Indigenenorganisationen, die auf globaler Ebene zur Formulierung neuer Rechtsnormen führte, deren Durchsetzung wiederum die Akzeptanz der Positionen zur Voraussetzung hatte, die sich im Zuge der jüngsten Diskussionen um Postkolonialismus und Subalternität herausgebildet hatten. Die Ratifizierung dieser neuen Rechtsnormen erfolgte nach einer sich über fast zwei Jahrzehnte hinziehenden Debatte schließlich mit der im September 2007 von den Vereinten Nationen verabschiedeten „Declaration on the Rights of Indigenous Peoples“. Allerdings ist die Umsetzung der Grundsätze der „Declaration“ in nationale Gesetzgebungen bisher nur zögernd vor sich gegangen und auf zahlreiche Widerstände gestoßen. Hier eröffnen sich zahlreiche neue Forschungsfelder. Ihrer Untersuchung wird gegenwärtig in der zweiten Laufzeitphase des Clusters an ausgewählten Beispielen nachgegangen. 

Ausgangspunkt des Forschungsvorhabens der Projektmitarbeiterin bildete die Beobachtung, dass ökonomische Diskurse weltweit als ein, wenn nicht als das zentrale Rechtfertigungsnarrativ moderner Gesellschaften fungieren. Dem stehen wiederum, besonders in postkolonialen Gesellschaften, ökonomische Gegendiskurse entgegen, die das normative Selbstverständnis der westlichen Moderne und der mit ihm assoziierten Praktiken angreifen. Die gesellschaftlichen Bedingungen für die Herausbildung eines solchen Gegenmodells wurden am Beispiel Indiens untersucht, wo die Befreiung von der Kolonialherrschaft durch die Verwirklichung einer soziopolitischen Gesellschaftsordnung erreicht werden sollte, die auf Prinzipien der hinduistischen bzw. der islamischen Ökonomie basierte. Dabei ging es vor allem um folgende Fragen: Weshalb formulierte die gebildete Elite Indiens ihre Kritik an der britischen Kolonialregierung, und am Westen im Allgemeinen in wirtschaftlichen Begriffen? Wie entstanden postkoloniale Vorstellungen von Staat und Gesellschaft, die sich zugleich kritisch mit den Normen einer postaufklärerischen westlichen „Modernität“ auseinandersetzten? Welche Rolle spielten dabei indische (Re)Visionen indigener „Tradition(en)”? Weshalb wurden diese postkolonialen Gegendiskurse zunehmend religiös verankert – sowohl im Hinduismus als auch im Islam? Während der hinduistisch-geprägte ökonomische Gegenentwurf mit der Ermordung Mahatma Gandhis an politischer Relevanz verlor, fand die von Abu A‘la Maududi entwickelte islamische Alternative in den folgenden Jahrzehnten weit über Indien hinaus Zuspruch. Seit dem Fall des Kommunismus erscheint sie als einer der wichtigsten normativen Gegenentwürfe zum Kapitalismus, wird dabei allerdings nur zögerlich in entsprechende Praxen umgesetzt.

Der Projektleiter hat die Resultate seiner Forschungen in Form von Aufsätzen veröffentlicht. Dazu zählen: Kohl, Karl-Heinz (2009): „Die Ethnologie und die Rekonstruktion traditioneller Ordnungen“, in: Fried, Johannes/Stolleis, Michael (Hg.), Wissenskulturen. Über die Erzeugung und Weitergabe von Wissen, Frankfurt am Main/New York: Campus, 159-180 und Kohl, Karl-Heinz (2010): „The End of Anthropology – an Endless Debate”, in: Paideuma 56, 87-98; Kohl, Karl-Heinz/Carstensen, Christian/Jauernig, Susanne/Kammler, Henry (Hg.) (2011): Transfer und Wiederaneignung von Wissen, Altenstadt: ZKF Publishers. Das Teilprojekt der Mitarbeiterin ist zum Mai 2011 ausgelaufen. Ihre Ergebnisse sind in ihre Dissertation eingegangen und finden sich in den Aufsätzen: Rieck, Katja (2014): „Religionsästhetik, Imagination und die Politisierung des Fortschritts in Indien, 1870-1920”, in: Lucia Traut/ Annette Wilke (Hg.): Religion – Imagination – Ästhetik. Vorstellungs- und Sinneswelten in Religion und Kultur. Critical Studies in Religion/Religionswissenschaft (CSSRW), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht und Rieck, Katja (2015): „The Colonial Order of Things and its AlterNatives: Contesting Power/Knowledge in Late Colonial India”, in: Sophia Ebert/Johannes Glaeser (Hg.): Ökonomische Utopien, Berlin: Neofelis Verlag, 125-150.

Aktuelles aus dem Forschungszentrum

News
30.06.2025

Artikel „Ideology and Suffering: What Is Realistic about Critical Theory?“ von Amadeus Ulrich im EJPT erschienen

Der Artikel „Ideology and Suffering: What Is Realistic about Critical Theory?“ von Amadeus Ulrich ist soeben Open Access im European Journal of Political Theory (EJPT) erschienen. Ulrich bringt darin die Perspektive des radikalen Realismus mit der kritischen Theorie Adornos in einen produktiven Dialog.

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News
30.06.2025

Prof. Dr. Franziska Fay mit dem Sibylle Kalkhof-Rose-Universitätspreis 2025 ausgezeichnet

Prof. Dr. Franziska Fay (Juniorprofessorin für Ethnologie mit dem Schwerpunkt Politische Anthropologie Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und ehemalige Postdoktorandin des Forschungszentrums Normative Ordnungen der Goethe-Universität) erhält den Sibylle Kalkhof-Rose-Universitätspreis 2025 in der Kategorie Geistes- und Sozialwissenschaften.

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Publikation
25.06.2025 | Onlineartikel

Ideology and Suffering: What Is Realistic about Critical Theory?

Ulrich, Amadeus (2025): Ideology and suffering: What is realistic about critical theory? European Journal of Political Theory, 0(0).  https://doi.org/10.1177/14748851251351782

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News
24.06.2025

Neue Reihe „Vertrauensfragen“ in der Frankfurter Rundschau initiiert von Hendrik Simon

Demokratie lebt vom Streit – wenn er der gemeinsamen Suche nach Lösungen dient. An diesem Miteinander hakt es oft. Die neue FR-Reihe „Vertrauensfragen“ untersucht, initiiert von Hendrik Simon (Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) Standort Frankfurt am Forschungszentrum Normative Ordnungen der Goethe-Universität), woran das liegt und wie wir es besser machen.

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Publikation
23.06.2025 | Working Paper

Untrustworthy Authorities and Complicit Bankers: Unraveling Monetary Distrust in Argentina

Moreno, Guadalupe (2025): “Untrustworthy Authorities and Complicit Bankers: Unraveling Monetary Distrust in Argentina”. Max Planck Institute for the Study of Societies Discussion Paper 25/3.

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News
22.05.2025

Hat die deliberative Demokratie im Zeitalter von Oligarchen, Autokraten und Patriarchen eine Zukunft?

Am 3. Juni hält Prof. Simone Chambers einen Vortrag zum Wert von Demokratien und der Zukunft der Staatsform.

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Publikation
19.05.2025 | Sammelband

Klimaethik. Ein Reader

Sparenborg, Lukas; Moellendorf, Darrel (Hrsg.) (2025) : Klimaethik. Ein Reader. Suhrkamp.

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News
19.05.2025

Was kann eine barocke Tapisserie über koloniale Ikonographie erzählen?

Vortrag von Cécile Fromone am 21. Mai. Die Professorin am Department of the History of Art and Architecture der Harvard University sowie Direktorin der Cooper Gallery am Hutchins Center und Autorin wird über lange vergessene afrikanische Ursprünge der Ikonographie und deren koloniale Dimension referieren.

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News
05.05.2025

Normative Orders Newsletter 01/25 erschienen

Der Newsletter aus dem Forschungszentrum Normative Ordnungen versammelt mehrmals im Jahr Informationen über aktuelle Veranstaltungen, Berichte, Neuigkeiten und Veröffentlichungen. Lesen Sie hier die erste Ausgabe 2025.

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