Überlegungen zur Verteidigung der Demokratie – Zwei Krisen der Demokratie
Von Rainer Forst
Lange wurde bezweifelt, ob die Rede von der Krise der Demokratie angebracht ist, ist doch die Krise der Moment, an dem sich Leben oder Tod entscheidet. Dass es noch nicht ganz so schlimm sei, hörte man in den letzten Jahren oft, nun aber hat sich der Wind gedreht. In Deutschland kulminieren die Krisenphänomene – die Übernahme der Macht im Osten durch die AfD kann einstweilen nur durch brüchige Megakoalitionen abgewendet werden, und die neue Regierung sieht sich einer Auflösung der internationalen Ordnung ohnegleichen gegenüber, während Trump und seine Leute in den USA vormachen, wie man die älteste Demokratie autoritär umformt.
Aber worin genau besteht die Krise der Demokratie, deren Verlauf wir hier sehen? Woher rührt sie? Ich vertrete die These, dass wir es eigentlich mit zwei Krisen zu tun haben. Die erste nenne ich Rechtfertigungskrise. Sie besteht kurz gesagt darin, dass uns die Begriffe verloren gehen, die wir brauchen, um uns politisch-normativ zu orientieren. Mehr noch, die eigentliche Bedeutung dieser Begriffe wird nicht einfach übersehen oder vergessen, sondern sie wird aktiv bekämpft – indem man sich doch ideologisch genau auf sie beruft. Das ist das Kennzeichen normativer Regression. Es wird massiv an einer „Umwertung aller Werte“ gearbeitet, und wir wissen nicht, was von Begriffen wie Demokratie, Freiheit oder Gerechtigkeit bleibt, wenn diese Arbeit verrichtet ist. Wir haben es demnach mit einer veritablen Identitätskrise der Demokratie zu tun, der ihr Selbstverständnis zerfließt.
Die zweite Krise ist struktureller Natur. Alle größeren politischen Herausforderungen unserer Zeit – Krieg und Frieden, die transnationale ökonomische Un-Ordnung, die steigenden Reichtum hier und Abhängigkeit und Armut dort mit sich bringt, der Klimawandel, Migration – sind globaler Natur. Aber nicht nur die Institutionen, um auf sie zu reagieren, sind nationalstaatlicher Art oder aber, sofern international, schwach entwickelt oder unter regressivem Beschuss; mehr noch, die politische Imagination in praktisch allen Staaten der Welt ist national gepolt.
Deshalb werden entweder gar keine umfassenden, progressiven Strukturpolitiken mehr anvisiert, sondern der Kampf um den besten nationalen Platz unter der globalen Sonne geführt, oder aber die Politiken, die sich anschicken, wenigstens auf nationaler Ebene noch auf einige dieser Herausforderungen produktiv zu reagieren, werden abgestraft, weil sie im Ruf stehen, die eigene Bevölkerung über Gebühr zu belasten und zu gängeln. Das Schicksal der Klimapolitik ist ein klares Beispiel hierfür. Allenfalls an den schlimmsten Auswirkungen der Lage können, so scheint es, noch Korrekturen angebracht werden (Mindestlohn), die aber auch im Verdacht stehen, zu teuer zu sein und die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu beschädigen. Diese tiefgreifende strukturelle Krise führt zu einer Selbstblockade der Demokratie: Wer die Herausforderungen der Zeit recht versteht, hat nicht die Mittel der Macht zur Verfügung, die zu ihrer Bewältigung nötig sind. Es gibt ein common bad, aber keinen institutionellen Ort für die Diskussion und Herstellung eines common good.
Diese Strukturkrise hat sich seit den neunziger Jahren und verstärkt nach der Finanzkrise 2008 lähmend auf das politische Selbstverständnis in allen, nicht nur demokratischen Staaten, gelegt. Viele reagierten fatalistisch, andere mit dem Ruf nach transnationaler Politik, der aber verhallt. Aber bei nicht Wenigen reifte in dieser Zeit die Überzeugung, dass es eine Gruppe von Profiteuren gibt, die sich in dieser Welt recht gut einrichten und nicht wirklich gewillt sind, etwas zu verändern.
Es gehört zu den Perversionen unserer Zeit, dass dieser Vorwurf heute weniger wirtschaftliche Eliten als links-ökologische Positionen trifft, aber man muss diese politische Lähmung und diese Vorbehalte in Rechnung stellen, um die Wucht zu begreifen, mit der nun einige (und immer mehr) rechtsautoritär versuchen, aus diesem polit-ökonomischen Gefängnis auszubrechen. Vielleicht, so sagen sie sich, gab es diese globalen Rahmenbeschränkungen gar nicht, vielleicht gelingt nationalistische Politik doch. Das ist der Kipppunkt, an dem wir uns heute befinden. Die lange empfundene politische Ohnmacht entlädt sich im aggressiven und regressiven Wahn nationalistischer politischer Allmacht: Take back control!
An vielen Stellen zeigt sich die Doppelkrise, insbesondere beim Thema der Migration. Bürgerkriege, Armut und Klimawandel sind die Ursachen großer Migrationsbewegungen, aber umfassende strukturelle Antworten, die sich deren Ursachen stellen und nach transnational legitimen Lösungen suchen, fehlen. In westlichen Gesellschaften wird darauf verstärkt mit der Rede von „illegaler“ Migration reagiert, sodass Migranten generell als Gefahr betrachtet werden. Sie werden, mehr noch, zur Verkörperung des bedrohlichen Globalismus, den es abzuwenden gilt.
Das Thema besetzt die politische Agenda, was fremdenfeindliche und nationalistische Parteien beflügelt. Das xenophobe Ressentiment wird salonfähig, da man ja nur „Recht und Ordnung“ wiederherstellen will. In Zeiten der Regression wendet sich die Wut derer, die sich übergangen fühlen, gegen die gesellschaftlich Wehrlosesten – eine alte Einsicht der Frankfurter Schule.
Zweitens, wichtiger noch, haben die Attacken von rechts, inklusive der Welle, die aus den USA herüberschwappt, diejenigen, die sich diesen entgegenstellen, in eine politische Ecke gedrängt, die „die Demokratie“ nur noch zu verteidigen sucht, was für manche Ohren hingegen nur noch wie die Aufrechterhaltung des Status quo klingt samt der Privilegien, die die Verteidiger dort angeblich (oder wirklich) haben.
Hier stoßen wir, wie schon angedeutet, an den Kern des Hasses, der linken und linksliberalen Parteien und Institutionen (etwa den Universitäten in den USA) entgegenschlägt. Das Phänomen Trump ist nicht anders zu erklären. Er hat es geschafft, das schwelende Ressentiment gegen Progressive zu wenden, die angeblich vom hohen moralisch-ökonomischen Ross herab auf die schauen, die wenig kulturelles und ökonomisches Kapital haben.
Das Momentum, nach vorne gerichtete, verändernde Politikangebote zu machen, geht damit, und das ist entscheidend, von links nach rechts – in die Richtung derer, die meinen, im nationalistisch-libertären Furor die Welt umgestalten zu können. Und sie tun es ja auch, im Modus der Kettensäge. Progressive Politik verliert aber so ihre Projekte, sie wirkt in diesem ideologischen Licht nur noch defensiv und vor allem: besitzstandswahrend. Die blanke Regression wird zur Scheinprogression, das Reaktionäre wird zur Aktion. Im Extrem bildet sich damit eine Politik, die die globalen Probleme, etwa den Klimawandel oder pandemische Viren, schlichtweg verneint. Das Fest der Macht, das hier gefeiert wird, nimmt die Wirklichkeit frontal aufs Korn.
Drittens intensiviert dies die Pervertierung von Begriffen, was ich Rechtfertigungskrise nenne. Denn das politische Selbstverständnis einer demokratischen Republik setzt voraus, dass Begriffe wie Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit oder Menschenrechte richtig verstanden werden. Wenn aber Freiheit nur noch egoistische Rücksichtslosigkeit heißt (ein Erbe der Pandemie), wenn Meinungsfreiheit etwa reduziert wird auf die ungehinderte Machtentfaltung der sozialen Medien, die den Schlamm aufwühlen, der alles überdeckt und dabei Milliardengewinne für wenige ermöglichen, wenn Demokratie bedeuten soll, dass Mehrheiten Autokraten ermächtigen können, Grundrechte und demokratische Institutionen zu schleifen, wenn Menschenrechte nur noch als ideologische Chiffren dienen, die man (siehe Asyl oder Migration) machtpolitisch ein- oder aussetzt, dann sind wir endgültig in einem politischen Raum angekommen, der nur noch Selbstbehauptung kennt.
Dann verkehrt sich eine Politik der Gerechtigkeit in eine der Rache: Wie du mir, so ich dir, der Rechtsstaat stört da nur. Dann kann unter dem Vorwand der „Fairness“ der Kampf gegen materiale Gleichstellungspolitiken, die benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen zugutekommen sollen, aufgenommen werden. In dieser normativen Nacht treten am Ende Antisemiten als Bollwerk gegen Antisemitismus auf. Aber wo Gefahr ist, könnte auch das Rettende wachsen, zumindest muss man es suchen. Das beginnt bei einer Verständigung über Grundsätze. Dazu einige Stichworte.
1. Progressive, wahrhaft demokratische Politik muss auf universalistischen Prinzipien beruhen, nicht auf kulturalistischen „Werten“, die man verteidigt. Es kann nicht darum gehen, eine „Lebensform des Westens“ zu verteidigen oder zu propagieren, sondern Grundsätze zu realisieren, die für alle gleichermaßen gelten können und sollten, da sie auf der vernunftbegründeten Idee der Autonomie beruhen, dass niemand das Recht hat, andere einer Ordnung zu unterwerfen, die nicht allen gegenüber als Freien und Gleichen gerechtfertigt werden kann.
2. Das bedeutet zweitens, dass es bei der „Verteidigung“ der Demokratie nicht darum gehen kann, Strukturen zu verteidigen, die die Krise erst herbeigeführt haben. Und es erfordert, dass der Begriff der Demokratie selbst richtig verstanden wird. Gegen die weit verbreitete Tendenz, Grundrechte von diskriminierten Gruppen und Demokratie begrifflich zu trennen, muss darauf bestanden werden, dass eine in diesem Sinne „illiberale Demokratie“ keine ist. Die Demokratie ist in die Moderne gekommen als Form politischer Herrschaft, die Willkür überwinden und bannen soll, und daher darf sie nicht zu einer majoritär-autokratischen Willkürherrschaft verkommen.
3. Die globale strukturelle Politikkrise, in die nationale Gemeinschaften gelangt sind, bedeutet nicht, dass sie nicht wesentlich größere Anstrengungen unternehmen könnten und sollten, Menschen mit geringen Einkommen besserzustellen. Wer das Gift nicht sieht, das durch wachsende soziale Ungleichheit und Unfreiheit, auch bei relativ guter Durchschnittsversorgung der Bevölkerung, in Gesellschaften einsickert, der versteht nicht den Erfolg der Rechten, die sich zu Fürsprechern der „Abgehängten“ erklären. Heute bitten ja schon die Superreichen darum, man möge sie höher besteuern (und bleiben unerhört); dies ist die Zeit für effektive, mutige soziale Politik, auch in Form einer Steuerreform.
4. Der Punkt über den Universalismus der Grundlagen einer freiheitlichen, demokratischen Republik verweist auf den Imperativ, eine internationale Ordnung des Rechts und darüber hinaus der Politik zu stabilisieren und zu etablieren, die Recht fair setzt und durchsetzt. Wer internationale Politik nur als Mittel zur Dominanz der eigenen Interessen begreift, hat diese Grundlagen schon verraten. Die Art, wie heute das Völkerrecht offensiv angegriffen wird, kann nicht hingenommen werden.
5. Auf die Frage von J.D. Vance in München, welche Demokratie die Europäer eigentlich verteidigen, muss eine passende Antwort gefunden werden, und sie kann nicht nur eine europäische Verteidigungsgemeinschaft umfassen, sondern primär ein politisches Projekt, das Maßnahmen zur Reduzierung ökonomischer Abhängigkeiten und internationaler Ausbeutungsverhältnisse unternimmt – inklusive der Begrenzung der Macht von Digitaloligarchien. Also keine Festung Europa, wohl aber ein wahrhaft demokratisches Projekt einer Republik der Republiken.
Rainer Forst, 1964 in Wiesbaden geboren, hat Philosophie, Politikwissenschaft und Amerikanistik in Frankfurt, New York und an der Harvard University studiert. Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie und Direktor des Forschungszentrums „Normative Ordnungen“ an der Frankfurter Goethe-Universität.