Gleichheitsanspruch und Geschlechterdifferenzen in Eltern-Kind-Beziehungen: die Praxis normativer Ordnungen

Projektleitung: Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Axel Honneth und Prof. Dr. Kai-Olaf Maiwald 

Familienbeziehungen stellen herausgehobene Orte des Aufeinandertreffens von Normen unterschiedlicher Art dar. Schon der Typus der bürgerlichen Familie, der im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstand und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts allgemeine Geltung beanspruchen konnte, lässt sich als zeitgebundene „Klammer“ für heterogene Normvorgaben verstehen: Normen der politischen Ordnung (Herrschaft, Recht), die eine grundlegende Hierarchie zwischen Männern und Frauen begründen; Normen einer kulturellen „Tiefenschicht“ der Geschlechtersymbolik, die Männern und Frauen komplementäre Eigenschaften und Tätigkeitsfelder zuweisen; Normen, die auf zentrale Eigenschaften von Familienbeziehungen verweisen (Intimität, Emotionalität) und die Mitglieder auf Reziprozität, Fürsorge und die Betonung der Individualität verpflichten.

Das bürgerliche Familienmodell hat jedoch in den letzten Jahrzehnten seinen Geltungsanspruch in vielerlei Hinsicht eingebüßt. Das gilt besonders für Geschlechterdifferenzierungen in der öffentlichen wie in der privaten Sphäre. Grundlagen der Rechtfertigung der komplementären Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern – in Gestalt von Traditionalismen, Biologismen und spezifischen Geschichtsdeutungen – wurden einer weitgehenden Kritik unterzogen. Auch konnte vor dem Hintergrund der zunehmenden Erwerbsbeteiligung von Frauen bis hin zu der weitgehenden Institutionalisierung der Norm weiblicher Erwerbstätigkeit ein Rekurs auf die faktischen Geschlechterverhältnisse nicht mehr in der Weise als Begründung fungieren. Diese Entwicklung wurde begleitet von einem Prozess der „Demokratisierung“ der Familienbeziehungen, der in einer zunehmenden Bedeutung von Ideen der Gleichheit und Verteilungsgerechtigkeit als normativen Bezugspunkten des Handelns zum Ausdruck kam. Diese Entwicklung betrifft nicht nur die Paarbeziehungen, sondern auch das Verhältnis von Eltern und Kindern. Der Interaktionsstil wird nicht nur zunehmend egalitärer im Sinne eines Abbaus der innerfamilialen Hierarchie, die Eltern orientieren sich auch mehr an einer Gleichbehandlung von Jungen und Mädchen sowie an der Berücksichtigung und Förderung der je besonderen Persönlichkeit des Kindes.

Trotz dieser Entwicklungen kann man davon ausgehen, dass weiterhin – zumindest innerhalb bestimmter Bereiche der allgemeinen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit – ein Differenzdiskurs von Bedeutung ist, in dem eine Ungleichheit der Geschlechter betont und als naturgegeben verstanden wird. Vor allem aber lässt sich, wie auch bei der ehelichen Arbeitsteilung, eine Diskrepanz zwischen den normativen Vorgaben und der faktischen Praxis feststellen. So weisen auch Kinder von explizit egalitär orientierten Eltern häufig Persönlichkeitseigenschaften auf, die den alten Geschlechterstereotypen entsprechen. 

Das Projekt untersuchte, wie Geschlechternormen von Eltern konzeptualisiert und im Erziehungsalltag mit dem Kind etabliert werden. Angenommen wurde, dass elterliches Handeln gegenwärtig durch drei normative Ordnungen gekennzeichnet ist: a) die Orientierung an der Gleichheit der Geschlechter, b) die Unterstellung ihrer Verschiedenheit, c) die Orientierung an der Individualität des Kindes.

Für die empirische Auswertung wurden nicht Geschlechter (Stereo-)typen analysiert, vielmehr lag der Fokus auf differenzierenden Konzepten und Interaktionen. So wurden die Grenzsetzungen in den Blick genommen und nicht so sehr die (historisch immer wieder wechselnden) Inhalte von Geschlechterbildern. Die Analyse hatte eine exemplarische, modellbildende Ausrichtung. Datengrundlage waren eine Videoaufzeichnung einer angeleiteten Spielgruppe von Kindern im Alter von 3-4 Jahren und ihren Müttern sowie teilstrukturierte Interviews mit fünf dieser Mütter.

Zur Interviewauswertung: Alle drei Muster lassen sich in den Äußerungen der Mütter mit fallspezifischen Unterschieden nachweisen und erscheinen so als nicht hintergehbar. Auch bei den Müttern, die über eine ausgeprägte Orientierung an der Gleichheits- oder Individualitätsidee verfügen, können deutliche unterschwellige geschlechterdifferenzierende Muster ausgemacht werden. Bemerkenswert ist die Gleichzeitigkeit der inhaltlich ja konkurrierenden Orientierungen, die bei den Akteuren auch kaum zu Deutungsproblemen Anlass gab. Nur teilweise ließen sich die normativen Muster in eine Hierarchie der Art „manifeste (und damit wenig handlungswirksame) Orientierungen“ vs. „latente (und damit stärker handlungsrelevante) Orientierungen“ bringen. Das wirft die Folgefrage auf, wie sich die konkurrierenden Orientierungen in der alltäglichen elterlichen Praxis vermitteln.
Zur Videografieauswertung: Im frühkindlichen Alter scheinen andere Normen (als die Geschlechternormen) im Vordergrund zu stehen. In den Mutter-Kind-Interaktionen sind zwar uneindeutige geschlechterdifferenzierende Gesten zu erkennen, die bis zu einem gewissen Maße durch die begleitende Sprache vereindeutigt werden, aber mütterlicherseits wird bei Verstoß gegen (typische) Geschlechternormen nicht, bei anderen Normenverstößen (v. a. Gerechtigkeits- und Höflichkeitsnormen) aber deutlich sanktioniert. Darüber hinaus bleibt es nicht auflösbar, ob tatsächlich in einigen Interaktionen die Geschlechternorm oder zum Beispiel die Individualitätsnorm thematisch war. Erst der Akt des Kommentierens durch Dritte vereindeutigt die mehrdeutig gebliebene Praxis in Bezug darauf, dass nun die Geschlechternorm dominant wird. Die vorher latente Geschlechternorm erhält durch die intersubjektiv vollzogenen Reinterpretationen manifeste Geltung.

Zu den wichtigsten Forschungspublikationen des Projektes zählen: Maiwald, Kai-Olaf (2010): „Vom Schwinden der Väterlichkeit und ihrer bleibenden Bedeutung. Familiensoziologische Überlegungen“. In: Thomä, Dieter (Hg.), Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee. Berlin: Suhrkamp, 251-268; Maiwald, Kai-Olaf (2012): Solidarität in Paarbeziehungen. Eine Fallrekonstruktion, in: Dorothea Christa Krüger, Holger Herma und Anja Schierbaum (Hg.): Familie(n) heute – Entwicklungen, Kontroversen, Prognosen, Weinheim und München: Juventa, 324-342 und Honneth, Axel (2011): Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin: Suhrkamp.

Aktuelles aus dem Forschungszentrum

Veranstaltung
14.07.2025 | Frankfurt

Utopie und Aufbruch der 1968er – Was von politischer Rebellion und individueller Selbstbefreiung geblieben ist

Podiumsdiskussion

Die Diskussionsrunde mit Rainer Langhans, Christa Ritter, die seit 1978 zur Selbsterfahrungsgruppe um Langhans gehört, und dem Sozialphilosophen Martin Saar widmet sich utopischen Vorstellungen, die von der 1968er Bewegung ausgingen, und beleuchtet deren Ideale, Impulse, individuelle und gesellschaftspolitische Nachwirkungen.

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Veranstaltung
15.07.2025 | Frankfurt am Main

Klimaethik - Ein Reader

Buchvorstellung

Vorstellung des Buchs mit Dr. Lukas Sparenborg (Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaften an der Goethe-Universität) und Prof. Dr. Darrel Moellendorf (Professor für Internationale Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität, Distinguished Visiting Professor an der Universität Johannesburg, Mitglied des Forschungszentrums Normative Ordnungen)

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News
30.06.2025

Artikel „Ideology and Suffering: What Is Realistic about Critical Theory?“ von Amadeus Ulrich im EJPT erschienen

Der Artikel „Ideology and Suffering: What Is Realistic about Critical Theory?“ von Amadeus Ulrich ist soeben Open Access im European Journal of Political Theory (EJPT) erschienen. Ulrich bringt darin die Perspektive des radikalen Realismus mit der kritischen Theorie Adornos in einen produktiven Dialog.

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News
30.06.2025

Prof. Dr. Franziska Fay mit dem Sibylle Kalkhof-Rose-Universitätspreis 2025 ausgezeichnet

Prof. Dr. Franziska Fay (Juniorprofessorin für Ethnologie mit dem Schwerpunkt Politische Anthropologie Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und ehemalige Postdoktorandin des Forschungszentrums Normative Ordnungen der Goethe-Universität) erhält den Sibylle Kalkhof-Rose-Universitätspreis 2025 in der Kategorie Geistes- und Sozialwissenschaften.

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Publikation
25.06.2025 | Onlineartikel

Ideology and Suffering: What Is Realistic about Critical Theory?

Ulrich, Amadeus (2025): Ideology and suffering: What is realistic about critical theory? European Journal of Political Theory, 0(0).  https://doi.org/10.1177/14748851251351782

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News
24.06.2025

Neue Reihe „Vertrauensfragen“ in der Frankfurter Rundschau initiiert von Hendrik Simon

Demokratie lebt vom Streit – wenn er der gemeinsamen Suche nach Lösungen dient. An diesem Miteinander hakt es oft. Die neue FR-Reihe „Vertrauensfragen“ untersucht, initiiert von Hendrik Simon (Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) Standort Frankfurt am Forschungszentrum Normative Ordnungen der Goethe-Universität), woran das liegt und wie wir es besser machen.

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Publikation
23.06.2025 | Working Paper

Untrustworthy Authorities and Complicit Bankers: Unraveling Monetary Distrust in Argentina

Moreno, Guadalupe (2025): “Untrustworthy Authorities and Complicit Bankers: Unraveling Monetary Distrust in Argentina”. Max Planck Institute for the Study of Societies Discussion Paper 25/3.

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News
22.05.2025

Hat die deliberative Demokratie im Zeitalter von Oligarchen, Autokraten und Patriarchen eine Zukunft?

Am 3. Juni hält Prof. Simone Chambers einen Vortrag zum Wert von Demokratien und der Zukunft der Staatsform.

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Publikation
19.05.2025 | Sammelband

Klimaethik. Ein Reader

Sparenborg, Lukas; Moellendorf, Darrel (Hrsg.) (2025) : Klimaethik. Ein Reader. Suhrkamp.

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