Die Entstehung nationaler Rechtssysteme im postosmanischen Südosteuropa

Projektleiter: Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Michael Stolleis

Das Projekt widmete sich der Formierung nationaler Rechtssysteme in den südosteuropäischen Staaten im 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich um einen komplexen Prozess, dessen strukturelle Bedingungen weit in die vorausgehende osmanische Periode zurückreichen. 

Worin besteht die Rolle des westlichen Rechts und die der Muster der okzidentalen Modernität im postosmanischen Südosteuropa? Was sind die Bedingungen der Rechtstransfers und wie wird das neue Recht implementiert und legitimiert? Wie steht es um die Constraints der nationalen Neustarts und wie präsent bleibt das osmanische Erbe der postosmanischen Normenordnung? Die historische Großregion Südosteuropa tritt mit dem Niedergang des osmanischen Reichs in eine Phase des forcierten Wandels ein. Die postosmanische Konstellation ist eine Gemengelage aus altem und neuem Recht, aus tradierter, transformierter und transferierter Normativität und der Evidenz sub-regionaler Spezifika. Zugleich ist sie eingebettet in Prozesse der Bildung von Nationalstaaten und dem Streben nach ihrer Legitimierung. In den Blick genommen wurden die Themen der Verfassungsgebung und des Aufbaus eines modernisierten Straf- und Zivilrechts. Besondere Aufmerksamkeit erhielt dabei die Erforschung justizieller und außerjustizieller Normdurchsetzung.

Das Projekt sieht die Rechtsgeschichte der Region sowohl im gesamteuropäischen Kontext als auch im Rahmen der osmanischen Geschichte. Im Zuge einer forcierten Modernisierung der traditionell organisierten Gesellschaften Südosteuropas galt das Recht gleichermaßen als Zweck und Ziel. Denn die neuen Nationalstaaten versuchten, die eigene, von Gewohnheitsrecht, informeller Streitschlichtung oder teilweise von einer feudalen Rechtsprechung beherrschte Rechtstradition durch modernes, westeuropäisches Recht zu ersetzen – verbunden mit der Vorstellung, gerade auch dadurch den Entwicklungsstand westeuropäischer Staaten zu erreichen. Modernisierung und Rechtstransfer standen mithin im Mittelpunkt des Projekts und wurden exemplarisch in den Bereichen Verfassungsrecht, Zivilrecht und Strafrecht untersucht. Das Projekt hat in Bulgarien, Griechenland, Rumänien und der Türkei Forschungsgruppen mit jeweils sechs bis acht Wissenschaftlern aufgebaut. In Kooperation mit der Universität Wien (Prof. Dr. Thomas Simon) wurde eine weitere Gruppe mit bosnischen und serbischen Wissenschaftlern ins Leben gerufen. 

Die Ergebnisse wurden in einer Serie gruppenübergreifender Arbeitstagungen diskutiert und sind in zwei Projektbänden in der Reihe „Studien zur europäischen Rechtsgeschichte“ des MPIeR veröffentlicht: 
Michael Stolleis (Hg., unter Mitarbeit von Gerd Bender und Jani Kirov) (2016): Konflikt und Koexistenz. Die Rechtsordnungen Südosteuropas im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1: Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Frankfurt/M.: Klostermann, 2 Halb-Bände, XIV, X, 1031 S. 
Simon, Thomas (Hg.) (2017): Konflikt und Koexistenz Die Rechtsordnungen Südosteuropas im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 2: Serbien, Bosnien-Herzegowina, Albanien, Frankfurt/M.: Klostermann. IX, 629 S.

Zu den wichtigsten Publikationen zählen außerdem: 
Gerd Bender/Jani Kirov (2010): „Die Entstehung nationaler Rechtssysteme im postosmanischen Südosteuropa: Dekonstruktion, Formation und Transfer von Normativität“, in: Jahrbuch der MPG 2010, (online unter: http://www.mpg.de/387915/forschungsSchwerpunkt).
Jani Kirov (2009): „Foreign Law Between Grand Hazard and Great Irritation: The Bulgarian Experience after 1878“, in: Theoretical Inquiries in Law 2, 699-722.
Jani Kirov (2011): „Prolegomena zu einer Rechtsgeschichte Südosteuropas“, in: Rechtsgeschichte 18, 140-161. Michael Stolleis (2012): „Transfer normativer Ordnungen, Baumaterial für junge Nationalstaaten“, in: Rechtsgeschichte 20, 72-84. 

Im Projekt wurde u. a. die internationale Konferenz „Zur Entstehung nationaler Rechtssysteme im postosmanischen Südosteuropa. Dekonstruktion, Formation und Transfer von Normativität“, 29.-30.9.2010, durchgeführt.

Aktuelles aus dem Forschungszentrum

News
30.06.2025

Artikel „Ideology and Suffering: What Is Realistic about Critical Theory?“ von Amadeus Ulrich im EJPT erschienen

Der Artikel „Ideology and Suffering: What Is Realistic about Critical Theory?“ von Amadeus Ulrich ist soeben Open Access im European Journal of Political Theory (EJPT) erschienen. Ulrich bringt darin die Perspektive des radikalen Realismus mit der kritischen Theorie Adornos in einen produktiven Dialog.

weitere Infos ›
News
30.06.2025

Prof. Dr. Franziska Fay mit dem Sibylle Kalkhof-Rose-Universitätspreis 2025 ausgezeichnet

Prof. Dr. Franziska Fay (Juniorprofessorin für Ethnologie mit dem Schwerpunkt Politische Anthropologie Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und ehemalige Postdoktorandin des Forschungszentrums Normative Ordnungen der Goethe-Universität) erhält den Sibylle Kalkhof-Rose-Universitätspreis 2025 in der Kategorie Geistes- und Sozialwissenschaften.

weitere Infos ›
Publikation
25.06.2025 | Onlineartikel

Ideology and Suffering: What Is Realistic about Critical Theory?

Ulrich, Amadeus (2025): Ideology and suffering: What is realistic about critical theory? European Journal of Political Theory, 0(0).  https://doi.org/10.1177/14748851251351782

weitere Infos ›
News
24.06.2025

Neue Reihe „Vertrauensfragen“ in der Frankfurter Rundschau initiiert von Hendrik Simon

Demokratie lebt vom Streit – wenn er der gemeinsamen Suche nach Lösungen dient. An diesem Miteinander hakt es oft. Die neue FR-Reihe „Vertrauensfragen“ untersucht, initiiert von Hendrik Simon (Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) Standort Frankfurt am Forschungszentrum Normative Ordnungen der Goethe-Universität), woran das liegt und wie wir es besser machen.

weitere Infos ›
Publikation
23.06.2025 | Working Paper

Untrustworthy Authorities and Complicit Bankers: Unraveling Monetary Distrust in Argentina

Moreno, Guadalupe (2025): “Untrustworthy Authorities and Complicit Bankers: Unraveling Monetary Distrust in Argentina”. Max Planck Institute for the Study of Societies Discussion Paper 25/3.

weitere Infos ›
News
22.05.2025

Hat die deliberative Demokratie im Zeitalter von Oligarchen, Autokraten und Patriarchen eine Zukunft?

Am 3. Juni hält Prof. Simone Chambers einen Vortrag zum Wert von Demokratien und der Zukunft der Staatsform.

weitere Infos ›
Publikation
19.05.2025 | Sammelband

Klimaethik. Ein Reader

Sparenborg, Lukas; Moellendorf, Darrel (Hrsg.) (2025) : Klimaethik. Ein Reader. Suhrkamp.

weitere Infos ›
News
19.05.2025

Was kann eine barocke Tapisserie über koloniale Ikonographie erzählen?

Vortrag von Cécile Fromone am 21. Mai. Die Professorin am Department of the History of Art and Architecture der Harvard University sowie Direktorin der Cooper Gallery am Hutchins Center und Autorin wird über lange vergessene afrikanische Ursprünge der Ikonographie und deren koloniale Dimension referieren.

weitere Infos ›