Dialektik ‚Normativer Ordnungen‘? Das Mittelalter der DDR

Dr. Simon Groth

Laufzeit des Forschungsprojekts 12/2017 – 06/2020

Ausgehend von der erkenntnistheoretischen Prämisse, dass der Bezugspunkt des Historikers nicht die Vergangenheit ist, es also nicht darum gehen kann, eine historische ‚Wahrheit‘ oder ‚Wirklichkeit‘ zu erschreiben, (auch) die Geschichtswissenschaft vielmehr zwangsläufig einen formgebenden Gegenwartsbezug besitzt, zielte mein Projekt ursprünglich auf die noch eher allgemein gehaltene ‚Dialektik normativer Ordnungen‘ innerhalb der Mittelalterforschung der DDR. Daraus hat sich ein Buchprojekt entwickelt, das das zentrale Theorem der ostdeutschen Mediävistik, den Feudalismus, in den Mittelpunkt stellt. 

Der Fachterminus ‚Feudalismus‘ fungierte in der DDR als Metaebene für das Mittelalter, dem im theoretischen Kontext des ‚Historischen Materialismus‘ eine genuine Funktion unterstellt wurde. Denn indem man der Ablauf der Geschichte als eine durch ökonomische Prozesse gesetzmäßig bestimmte Entwicklung der menschlichen Gesellschaft verstand, diente die Geschichte nicht nur als Legitimationswissenschaft, sondern war geradezu die Bedingung für das eigene politische System.    

Das Forschungsprojekt untersuchte folglich weniger die Herausbildung einer konkreten normativen Ordnung (wenngleich die Geschichtswissenschaft an dieser Aufgabe in unmittelbarer Weise beteiligt war) als die Beschäftigung mit dem Konzept einer solchen innerhalb eines spezifischen politisch-staatlichen Rahmens. Hierbei war zu überdenken, ob und inwieweit es sinnvoll ist, die Wendung einer ‚normativen Ordnung‘ in dieser zweifachen Weise zu gebrauchen und welche Erkenntnismöglichkeiten sich daraus ergeben. Als ‚Rechtfertigungsnarrativ‘ war der Feudalismus in organischer Weise Teil des ostdeutschen Sozialismus, wohingegen auch die Mediävistik der DDR in der Tradition von Ranke eigentlich (oder: zunächst) der Epistemologie eines vermeintlich objektiven ‚[Z]eigen, wie es eigentlich gewesen‘ huldigte. 

Aufgrund der Lage (oder: der Selbstpositionierung) des eigenen Vorhabens an der Schnittstelle von Mediävistik, Zeitgeschichte und Wissenschaftsgeschichte bedurfte es dabei zunächst einer breiten Einbettung. Aus diesem Grund habe ich mich zunächst mit den inhaltlichen und epistemologischen Grundlagen der (deutschen) Mediävistik im 19. Jahrhundert beschäftigt, woraus drei Aufsätze entstanden sind.  
Gleichzeitig wurden durch die Organisation einer zweitägigen Tagung zum Thema „Der geschichtliche Ort der historischen Forschung. Lehnswesen und Feudalismus als Konzepte normativer Ordnung im Zeitalter der Extreme“ der eigene wissenschaftsgeschichtliche Zugang sowie erste Ergebnisse zum Feudalismus in der DDR zur Diskussion gestellt. Die Tagungsbeiträge erscheinen 2020 in einem Sammelband der Reihe „Normative Orders“ im Campus Verlag. 

Es ist vor dem Hintergrund einer Reihe von Arbeiten aus den letzten Jahren nicht zu übersehen, dass innerhalb der Konjunkturzyklen von Forschungsfeldern das Thema der normativen Gesellschaftsordnung des Mittelalters wieder an Bedeutung gewinnt. Im Gegensatz zu den eher dekonstruvistischen Ansätzen seit der Jahrtausendwende scheint es nunmehr wieder stärker um das systematische oder modellhafte Erfassen dieser Ordnung zu gehen. Möglicherweise wäre es hierbei (auch) hilfreich, wissenschaftsgeschichtliche Grundlagenforschung zu betreiben und die bisherigen Forschungen über das ‚Lehnswesen‘ und den ‚Feudalismus‘ selbst noch einmal gründlich zu analysieren. 

Damit verfolgt das Forschungsprojekt eine Reihe von Anliegen und hat einen doppelten Bezugspunkt. Im Sinne der ursprünglichen Ausrichtung des Exzellenzclusters bildet eine ganz konkrete normative Ordnung der Vergangenheit, die man in mediävistischer Diktion als ‚Lehnswesen‘ oder ‚Feudalismus‘ fassen könnte, den Kern des Erkenntnisinteresses. In Ergänzung der klassischen Zugriffe sollen dabei jedoch nicht die mittelalterlichen Quellen als Erkenntnismaterial ausgewertet werden, sondern die Ergebnisse der Forschung, die auf der Grundlage dieser Quellen geschrieben wurden. Im Allgemeinen versucht mein Ansatz also, die Wissenschaftsgeschichte – stärker als dies bisher der Fall war – in die Fachdebatten der Mittelalterforschung zu integrieren und als Instrument zu nutzen; im Speziellen fragt meine Wissenschaftsgeschichte der Mittelalterforschung (in) der DDR, ob sich dort bislang noch nicht aufgegriffene Anregungen für die im Fluss befindliche Beschäftigung mit der normativen Ordnung der mittelalterlichen Gesellschaft finden lassen. 

Aktuelles aus dem Forschungszentrum

News
30.06.2025

Artikel „Ideology and Suffering: What Is Realistic about Critical Theory?“ von Amadeus Ulrich im EJPT erschienen

Der Artikel „Ideology and Suffering: What Is Realistic about Critical Theory?“ von Amadeus Ulrich ist soeben Open Access im European Journal of Political Theory (EJPT) erschienen. Ulrich bringt darin die Perspektive des radikalen Realismus mit der kritischen Theorie Adornos in einen produktiven Dialog.

weitere Infos ›
News
30.06.2025

Prof. Dr. Franziska Fay mit dem Sibylle Kalkhof-Rose-Universitätspreis 2025 ausgezeichnet

Prof. Dr. Franziska Fay (Juniorprofessorin für Ethnologie mit dem Schwerpunkt Politische Anthropologie Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und ehemalige Postdoktorandin des Forschungszentrums Normative Ordnungen der Goethe-Universität) erhält den Sibylle Kalkhof-Rose-Universitätspreis 2025 in der Kategorie Geistes- und Sozialwissenschaften.

weitere Infos ›
Publikation
25.06.2025 | Onlineartikel

Ideology and Suffering: What Is Realistic about Critical Theory?

Ulrich, Amadeus (2025): Ideology and suffering: What is realistic about critical theory? European Journal of Political Theory, 0(0).  https://doi.org/10.1177/14748851251351782

weitere Infos ›
News
24.06.2025

Neue Reihe „Vertrauensfragen“ in der Frankfurter Rundschau initiiert von Hendrik Simon

Demokratie lebt vom Streit – wenn er der gemeinsamen Suche nach Lösungen dient. An diesem Miteinander hakt es oft. Die neue FR-Reihe „Vertrauensfragen“ untersucht, initiiert von Hendrik Simon (Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) Standort Frankfurt am Forschungszentrum Normative Ordnungen der Goethe-Universität), woran das liegt und wie wir es besser machen.

weitere Infos ›
Publikation
23.06.2025 | Working Paper

Untrustworthy Authorities and Complicit Bankers: Unraveling Monetary Distrust in Argentina

Moreno, Guadalupe (2025): “Untrustworthy Authorities and Complicit Bankers: Unraveling Monetary Distrust in Argentina”. Max Planck Institute for the Study of Societies Discussion Paper 25/3.

weitere Infos ›
News
22.05.2025

Hat die deliberative Demokratie im Zeitalter von Oligarchen, Autokraten und Patriarchen eine Zukunft?

Am 3. Juni hält Prof. Simone Chambers einen Vortrag zum Wert von Demokratien und der Zukunft der Staatsform.

weitere Infos ›
Publikation
19.05.2025 | Sammelband

Klimaethik. Ein Reader

Sparenborg, Lukas; Moellendorf, Darrel (Hrsg.) (2025) : Klimaethik. Ein Reader. Suhrkamp.

weitere Infos ›
News
19.05.2025

Was kann eine barocke Tapisserie über koloniale Ikonographie erzählen?

Vortrag von Cécile Fromone am 21. Mai. Die Professorin am Department of the History of Art and Architecture der Harvard University sowie Direktorin der Cooper Gallery am Hutchins Center und Autorin wird über lange vergessene afrikanische Ursprünge der Ikonographie und deren koloniale Dimension referieren.

weitere Infos ›