Der Streit um den Rechtsstaat und seine Krise zwischen Liberalismus und Korporatismus (1930-2001)

Dr. Agustín E. Casagrande

Laufzeit des Forschungsprojekts: 01/2018 – 12/2018

Die Staats- und Wirtschaftskrise Argentiniens von 2001 war Anlass für intensive und grundlegende Debatten über die Gestaltung der künftigen politischen und sozialen Ordnung. Wie sollte eine gerechte, Menschenrechte garantierende und Diversität akzeptierende und integrierende Gesellschaft beschaffen sein? In Reaktion auf die Krise und den für sie verantwortlich gemachten Neoliberalismus entwickelte sich in den letzten fünfzehn Jahren eine Politik der staatlichen Hegemonie, die sich vor allem durch zwei Charakterzüge auszeichnet: Erstens wurden staatliche Interventionen verstärkt. Zweitens wurde gesellschaftliche Diversität stark gefördert, insbesondere durch die rechtliche Anerkennung bestimmter ethnischer Gruppen und sozialer Bewegungen. Der sich hiergegen regende Widerstand setzte dem populistischen „Machtstaat“ den bürgerlich-liberalen „Rechtsstaat“ entgegen. Dieser Rechtsstaatsbegriff geriet dann seinerseits unter Ideologieverdacht – er wurde mit marktliberalistischen Rechtfertigungsstrategien synonym gesetzt. Derzeit kann man davon sprechen, dass sich der „Rechtsstaat“, was seine legitimatorische Fundierung betrifft, in der Krise befindet.

Die politisch-moralische Aufladung des Rechtsstaatsbegriffs mit wechselnd positiven oder negativen Konnotationen hat in Argentinien eine weit zurückreichende Tradition und sie hängt in starkem Maße mit den jeweils angenommenen gesellschaftspolitischen Implikationen zusammen. So konnte das Rechtsstaatsverständnis in der argentinischen Diskussion freiheitliche oder eher autoritäre, marktliberale oder sozial-emanzipatorische, gleichheitsbasierte oder auf Differenz setzende Konzeptionen in sich aufnehmen.

In der Geschichte des argentinischen Konstitutionalismus haben sich zwei unterschiedliche und widersprüchliche Verfassungstraditionen herausgebildet: die angelsächsische-liberale Tradition und die nationalistische-staatliche Tradition. Die Grundlage der liberalen Verfassungstradition war die Politische Ökonomie des ausgehenden 18. Jahrhunderts, deren anthropologische Perspektive nur ökonomisch rational handelnde Individuen anerkannte, welche sich auf Augenhöhe begegneten. In diesem Modell der formalen Gleichheit gab es keinen Raum für die Anerkennung von rechtlicher Ungleichheit und Sonderrechtsräumen. Die nationalistisch-staatliche Tradition ihrerseits, die stark korporatistisch geprägt war und deren Hegemonie von 1930 bis 1955 reichte, setzte auf den Staat als Motor der sozialen Entwicklung. Nicht nur die korporative Repräsentation war Teil dieses Konzepts, sondern auch die Anerkennung von unterschiedlichen Akteuren und Gruppen mit besonderen Rechten und Pflichten.

Von diesem Befund ausgehend, wurde im Rahmen des Projekts das Ziel einer historischen Rekonstruktion und Kontextualisierung von Rechtsstaatsverständnissen zwischen 1930 und 2001 verfolgt. Die Leitfragestellungen waren:
Kam es durch die Herausbildung korporatistischer Ordnungsmuster um ca. 1930 zu einer Ablösung des traditionellen liberalen gleichheitsbasierten Rechtsstaatsverständnis durch ein Ungleichheit anerkennendes und sogar förderndes Rechtsstaatsverständnis?
In welcher Weise wurde das traditionelle Rechtsstaatsverständnis später wieder rehabilitiert oder modifiziert und mit anderen Inhalten angereichert?

Methodisch bedeutete dies im Einzelnen, a) den Prozess der Übersetzung des deutschen Rechtsstaatsbegriffs in einem anderen semiotischen Raum zu analysieren; b) die Transformation/Assimilation des Konzepts in der Sprache des argentinischen öffentlichen Rechts zu beschreiben; und c) die verschiedenen Verwendungen des Rechtsstaatsbegriffs in unterschiedlichen historischen und politischen Kontexten zu untersuchen. 

Damit sollte eine erhebliche Forschungslücke nicht nur in der argentinischen Rechtsgeschichtswissenschaft, sondern auch in der argentinischen Verfassungsrechtswissenschaft geschlossen werden.

Publikationen

Monography: 
Gobierno de justicia, poder de policía. La construcción oeconómica del orden social en Buenos Aires (1776-1829). Ed. Tirant lo Blanch, Valencia. (Jan. 2019). 257 pp.

Book Chapters:
Agustín E. Casagrande 2018, “Del progreso Estatal al presentismo local. Historia sociológica y sociología jurídica en las aulas de derecho” en Felipe Fucito (Ed.), Sociología Jurídica. Universidad de Buenos Aires, Eudeba, In press.
Agustín E. Casagrande 2018/19 “Estadística en el Río de La Plata a comienzos del siglo XIX. Límites conceptuales para la “fuerza del Estado”, en Agüero Alejandro, Tau Anzóategui, Tradición jurídica y discursividad política en la formación de una cultura estatal. Trayectorias rioplatenses, siglo XIX. Inhide, In press.
Voz del DCH: Confesos. En proceso de revisión y envío de los directores al SSRN Max Planck Institut.

Blogs:
History, pardon and Memory in Latin American Constitutionalism. https://verfassungsblog.de/history-memory-and-pardon-in-latin-american-constitutionalism/

Aktuelles aus dem Forschungszentrum

Veranstaltung
14.07.2025 | Frankfurt

Utopie und Aufbruch der 1968er – Was von politischer Rebellion und individueller Selbstbefreiung geblieben ist

Podiumsdiskussion

Die Diskussionsrunde mit Rainer Langhans, Christa Ritter, die seit 1978 zur Selbsterfahrungsgruppe um Langhans gehört, und dem Sozialphilosophen Martin Saar widmet sich utopischen Vorstellungen, die von der 1968er Bewegung ausgingen, und beleuchtet deren Ideale, Impulse, individuelle und gesellschaftspolitische Nachwirkungen.

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Veranstaltung
15.07.2025 | Frankfurt am Main

Klimaethik - Ein Reader

Buchvorstellung

Vorstellung des Buchs mit Dr. Lukas Sparenborg (Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaften an der Goethe-Universität) und Prof. Dr. Darrel Moellendorf (Professor für Internationale Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität, Distinguished Visiting Professor an der Universität Johannesburg, Mitglied des Forschungszentrums Normative Ordnungen)

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News
30.06.2025

Artikel „Ideology and Suffering: What Is Realistic about Critical Theory?“ von Amadeus Ulrich im EJPT erschienen

Der Artikel „Ideology and Suffering: What Is Realistic about Critical Theory?“ von Amadeus Ulrich ist soeben Open Access im European Journal of Political Theory (EJPT) erschienen. Ulrich bringt darin die Perspektive des radikalen Realismus mit der kritischen Theorie Adornos in einen produktiven Dialog.

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News
30.06.2025

Prof. Dr. Franziska Fay mit dem Sibylle Kalkhof-Rose-Universitätspreis 2025 ausgezeichnet

Prof. Dr. Franziska Fay (Juniorprofessorin für Ethnologie mit dem Schwerpunkt Politische Anthropologie Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und ehemalige Postdoktorandin des Forschungszentrums Normative Ordnungen der Goethe-Universität) erhält den Sibylle Kalkhof-Rose-Universitätspreis 2025 in der Kategorie Geistes- und Sozialwissenschaften.

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Publikation
25.06.2025 | Onlineartikel

Ideology and Suffering: What Is Realistic about Critical Theory?

Ulrich, Amadeus (2025): Ideology and suffering: What is realistic about critical theory? European Journal of Political Theory, 0(0).  https://doi.org/10.1177/14748851251351782

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News
24.06.2025

Neue Reihe „Vertrauensfragen“ in der Frankfurter Rundschau initiiert von Hendrik Simon

Demokratie lebt vom Streit – wenn er der gemeinsamen Suche nach Lösungen dient. An diesem Miteinander hakt es oft. Die neue FR-Reihe „Vertrauensfragen“ untersucht, initiiert von Hendrik Simon (Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) Standort Frankfurt am Forschungszentrum Normative Ordnungen der Goethe-Universität), woran das liegt und wie wir es besser machen.

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Publikation
23.06.2025 | Working Paper

Untrustworthy Authorities and Complicit Bankers: Unraveling Monetary Distrust in Argentina

Moreno, Guadalupe (2025): “Untrustworthy Authorities and Complicit Bankers: Unraveling Monetary Distrust in Argentina”. Max Planck Institute for the Study of Societies Discussion Paper 25/3.

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News
22.05.2025

Hat die deliberative Demokratie im Zeitalter von Oligarchen, Autokraten und Patriarchen eine Zukunft?

Am 3. Juni hält Prof. Simone Chambers einen Vortrag zum Wert von Demokratien und der Zukunft der Staatsform.

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Publikation
19.05.2025 | Sammelband

Klimaethik. Ein Reader

Sparenborg, Lukas; Moellendorf, Darrel (Hrsg.) (2025) : Klimaethik. Ein Reader. Suhrkamp.

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